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Missverständnisse ...und andere Blindheiten

Missverständnisse ...und andere Blindheiten

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Missverständnisse ...und andere Blindheiten

Unsichtbare Orte der Republik am ehemaligen Tag der Republik.

Karl-Marx-Straße
Neuruppin
OPR (bedeutet nicht Ostpreußen, wie manch' Geschichtsvergessener glaubt, wenn er unsere Autos sieht)
Ostprignitz-Ruppin

dazu gehört auch:

Seid ihr noch wach ...???
Seid ihr noch wach ...???
Per Anhalter 42


und ein Dialog, der sich wie folgt in etwa so zutrug, als ich nach einem Titel für dieses Bild suchte:

Woran denkst Du bei Karl-Marx-Straße?

Ich denke an das Kaufhaus Magnet.

Wieso an das Magnet?

Weil Du daran sicher denkst.

Du sollst nicht meine Gedanken erraten, sondern sagen, woran Du denkst.

Gut, dann denke ich an den Schulplatz.

Komisch, wenn ich Karl-Marx-Straße denke, sehe ich immer den Karl-Marx-Kopf aus Karl-Marx-Stadt.

Wie soll ich das Bild nennen?

Wo ist das?

Karl-Marx-Straße

In welcher Stadt?

Na, bei uns in Neuruppin.

Ich kenne die Straße in- und auswendig. Ein solches Haus gibt es nicht. Zeig' nochmal her.
Auf welchem Ende soll das denn stehen?

Richtung Rheinsberger Tor.

Wo denn da?

Rechts neben dem Stadtgarten.

Da ist doch kein Haus.

Aber wenn ich's doch fotografiert habe ;))

Wir sind dort gewesen und ich habe es ihm gezeigt ... und ich finde es nach wie vor surreal, dass ein Haus existieren, aber kaum gesehen werden kann.

Und dann, dann erzählt es eigentlich noch viel mehr, wenn man sehen kann...

Kommentare 12

  • jens111 12. Februar 2024, 8:44

    Ich habe Lust auf solche Bilder! Und ich ich mag die Texte darunter. 
    Sollte ich mal (wieder) dort sein, will ich es real sehen.
    • Per Anhalter 42 13. Februar 2024, 8:38

      Das freut mich, dass Dir sowas gefällt. Kein massentauglicher, sondern eher ein exquisiter Geschmack. Ich habe es auch später nochmal fotografiert, aber zu anderen Tageszeiten entfaltet es nicht diese Wirkung. Du kennst Neuruppin?
    • jens111 13. Februar 2024, 11:01

      Kennen ist zuviel gesagt, ich war vor ein paar Jahren mal kurz dort.
  • felipe Martínez Pérez 9. Dezember 2022, 19:08

    Una presentación muy interesante.
  • Dieter Nießner 4. November 2022, 14:29

    Sehr beeindruckend. Sowohl dein Bild als auch der Begleittext. Beinahe jeder, wird es verstehen. Auch das Datum der Veröffentlichung halte ich für sehr passend.
    Eigentlich Stoff, für stundenlange Diskussionen. Längst sind solche Anregungen, nicht immer auch so ästhetisch schön.
    VG Dieter
    • Per Anhalter 42 6. November 2022, 10:34

      Herzlichen Dank für Deine Worte. Ja, ich finde auch, es lässt sich jede Menge denken und dazu sagen.

      Liebe Grüße Anke
  • Davina02 7. Oktober 2022, 14:00

    Sehr gute Stimmung! Für mich ist das Haus stehen geblieben, vllt. als Mahnmal mit dem Straßenschild. Eine Fassade mit "geschlossenen" und einem offenen Fenster, ein Bild, was zum Nachdenken anregt und das sollte es auch!
    LG Angela
  • verocain 7. Oktober 2022, 13:12

    Wir sehen eine typische Stadtlandschaft, wie man sie sehr häufig in der Provinz oder an den Rändern von Großstädten vorfindet, wenn geschlossene in offene Bebauung wechselt und es sich um so genannte Mischgebiete handelt. Typisch für solche Stadtlandschaften sind meist die Gegensätze, die sich an der Art und Nutzung der Bebauung festmachen lassen. Das vorliegende Bild könnte überall in Deutschland aufgenommen worden sein, der Subtext ordnet es aber örtlich konkret der brandenburgischen Provinz zu, nachdem das Straßenschild am Haus bereits einen groben Rückschluss auf die Region zuließ.

    Blickfang ist zunächst ein altes Haus, von dem nicht eindeutig erkennbar ist, ob es (noch) bewohnt ist. Auch die umliegende Pflasterung deutet auf alten Baubestand hin. Es ist ein Rest aus einer älteren Zeit, als die hintere, vermutlich gewerbliche genutzte Bebauung noch nicht bestanden hat. Das Haus in seiner stillen Ordnung und Symmetrie nimmt den größten Teil der Bildfläche ein und beinhaltet selbst einen weiteren Blickfang, nämlich das blaue Fenster, von Eem sich nicht sicher sagen lässt, ob es tatsächlich ein blauer Fensterverschlag ist oder ob es ein Durchblick, ein Loch ist, dass den blauen Nachthimmel zeigt. Letzteres ist anzunehmen. 

    Die formale Aufteilung ist streng und schulmäßig. Außer der Laterne, die künstliches zum Nachtlicht spendet sehen wir keine Auflockerung im Bild. Das Pflaster wird durch eine neuere Asphaltieren unterbrochen. Die Bildränder können weitergedacht werden und verraten etwas über den Gebietscharakter der Gegend, wo dieses Bild aufgenommen wurde.

    Alt und neu, Wohnung und Gewerbe. Es ist blauer Stunde, die Dämmerung ist abgeschlossen. Stille. Menschenleer, was typisch ist für Gegenden wie diese.
    Durch das blaue Fenster des Bildes ist das Haus mit der Nacht vereint. Etwas ist abgeschlossen, vorbei, es wird dunkel, etwas geht bzw. Ging zu Ende, nur das Haus blieb. 

    Damit werden wir zum Titel und Subtext geleitet, der nicht zeigt oder erläutert, was im Bild vordergründig zu sehen ist, sondern das Bild ergänzt und dadurch dem Betrachter und dem Betrachter eine Vorstellung vermittelt, welche Missverständnisse gemeint sein könnten. 
    Da dieses einsame und etwas verlorene Haus neben dem etwas monströs wirkenden Gewerbebau mit dem Nationalfeiertag der DDR in Verbindung gebracht wird, könnte es sein, dass es symbolisch für eine abgeschlossene Vergangenheit steht, möglicherweise bald abgerissen wird, um einer neuen Bebauung, wie wir sie im Hintergrund erahnen zu weichen. 
    Nur das Bild Bild erweist dem Vergangenen noch Wertschätzung. Das Haus ist verloren, vergessen, übersehen, nicht wahrgenommen - was man im Bild erahnte, wird durch den Dialog unter dem Bild bestätigt.
    Obwohl das Bild menschenleer ist, könnte es im Kontext mit Titel und Worten symbolisch auch stellvertretend ür einen Teil der Bevölkerung der ostdeutschen Provinz stehen, der sich ähnlich fühlt wie dieses Haus. 
    In der ehemals schönen idyllischen Stadtlandschaft zieht der kartonartige Gewerbebau ein, der in seiner Monstranz und Klobigkeit wie in allen Gewerbegebieten das Unternehmertum repräsentiert wie einst die Schlösser die Adeligen und somit in diametralen Gegensatz zum Namensgeber der Straße steht. 

    Ein Bild voller Gegensätze, das aber durch die harmonische Farbgestaltung eigenartig zusammengehalten wird und somit zeigt, dass zweidimensionale Aufteilung mit Bildrändern einen anderen Eindruck vermitteln kann, als den, den man am Kamerastandpunkt tatsächlich wahrnimmt. Der Bildausschnitt ist aktiv. Er weist über die Ränder hinaus. 

    Was den Betrachter lange beschäftigt, ist das blaue Fenster, das übergeordnet symbolisieren könnte, dass hier der Durchblick das Wesentliche sein könnte, wenigstens ist es das das Zentralmotiv des Bildes und möglicherweise wurde nicht nur bei der Bebauung und dem Zurücklassen dieses vergessenen Hauses etwas Wesentliches übersehen. Etwas zu übersehen, kann von Blindheit zeugen, was im Titel angesprochen wird. Möglicherweise verblasst auch die Erinnerung an einen früheren Feiertag. 

    Es ist ein wundervolles Bild, das ich mir an die Wand hängen würde, denn mit der Rezension wäre hier noch lange nicht Schluss. Nein, die Inhaltliche beginnt erst jetzt, wenn der Betrachter mit dem Bild alleine gelassen wird und für sich deutet, was sonst noch zu sehen glaubt.
    So sollte Fotografie sein! Das kann sie leisten. Es ist hier zu wenig Raum, um noch auf weitere Details einzugehen, die den gesellschaftskritischen Ansatz der Betrachtung stützen. Auch zur Gesamtwirkung ist noch nichts gesagt. 

    Sehr gut finde ich die Verlinkung des anderen Bildes. Das deutet an, dieses Bild könnte Teil einer Serie sein ( werden), die uns dann mehr erzählt und mehr Aufschluss gibt. Für diesen Fall schlage ich vor, das hier zum Titelbild zu machen :-)
    • Per Anhalter 42 7. Oktober 2022, 20:24

      Ich komme auf diesen Kommentar, diese intensive Bildbetrachtung zurück. Ich danke Dir. Habe ich in dieser Form noch nie in der fc gelesen... was mir als Satz gerade echt merkwürdig vorkommt, weil wir ja u. a. deshalb alle hier sind.
    • Per Anhalter 42 16. Oktober 2022, 16:43

      Ich habe dem Haus sehr bewusst durch die Art, wie ich es fotografiert habe, seinen Zusammenhang genommen, ausgeblendet, ihm etwas gegeben, dass etwas Einsames oder aber besser ein Alleinsein vermittelt. Tatsächlich beginnt hinter diesem Haus die Stadtmauer, der Weg rechts führt an ihr entlang.Danach beginnt dichte Bebauung. Links befindet sich der sog. Stadtgarten, wie man hier früher so schön sagte "Kulturhaus". Ich habe mehrere Bilder gemacht - mal mit dem Zusammenhang nach links und auch nach rechts. Das merkwürdige an diesem Haus ist, dass es sich überhaupt nicht einfügt - nicht in die Straße, nicht in die Bebauung, schon wegen der roten Klinkersteine und trotzdem fällt es nicht auf.

      An diesem Abend wollte ich eigentlich was anderes fotografieren, aber tatsächlich habe ich mehrere LZB von diesem Gebäude gemacht und das wesentlich fotogenere Rheinsberger Tor aufgegeben.

      Das erste Bild wurde versehentlich sehr malerisch, weil out of Focus - ich war im Dunkeln irgendwie ins Manuelle gerutscht (bei mir tatsächlich leider sehr leicht möglich). Jedenfalls erschien in der malerischen Variante das Haus mit diesem blauen Fenster. Hätte ich dieses Bild genommen oder mich damit zufrieden gegeben, hätte ich damit was anderes erzählt. Es hatte etwas surreales, verschwommenes, aber eben auch mit und durch diesen Durchblick  oder der Spiegelung des Himmels. Es hätte gut auch "Das blaue Fenster" heißen können. 

      Das blaue Fenster war der Grund weiterzumachen, es nochmal anders zu probieren und vor allem besser zu fokussieren. Ich konnte eine ganze Weile nicht sagen, warum mich diese Bilder von dem einzelnen Haus bewegten, warum sie mir am besten in ihrer Trivialität, in dieser Einsamkeit als Ergebnis des Abends gefielen: Ein leeres (es ist unbewohnt), einsam wirkendes Haus mit dem Straßenschild "Karl-Marx-Straße". Eine Art Metapher, ein Sinnbild für die Geschichte, die Vergänglichkeit, für das, was manche seit 30 Jahren so fühlen oder fühlen wollen. Es erzählt aber auch, was Namen sind, bedeuten können, wie sie je nach Geschichtslesung austauschbar werden: Da ist noch ein kleines blaues Schild. Die Karl-Marx-Straße war mal Friedrich Wilhelm II gewidmet, der die abgebrannte Stadt im klassizistischen Stil wieder aufbauen ließ. Ironie der Geschichte: Der Schulplatz vor dem alten Gymnasium unterbricht die Karl-Marx-Straße - dort hat Friedrich Wilhelm II seinen sichtbaren Platz mit einem Denkmal, während der Karl-Marx-Kopf im Rosengarten "versteckt" wurde. Ein schöner Platz an sich, aber er ist nicht leicht zu entdecken. 

      Mir war auch nicht ganz klar, warum ich dran geblieben bin, zumal ich auch durch den Straßenverkehr mehrere Versuche brauchte, weil ich zumindest die hellen Lampen der vorbeifahrenden Autos drauf hatte. Es war nicht menschenleer, aber es sollte so aussehen. Alles verbalisieren hat eine Grenze und wenn diese überschritten wird, beginnt das Sehen und das Fühlen, das sich den Worten und einer treffenden Beschreibung entzieht. 

      Natürlich habe ich noch andere Bilder von der Karl-Marx-Straße, aber diese Straße erzählt auf ihrer Länge auch noch andere Geschichten... wesentlich leichtere. 

      Ich danke Dir für Deine Betrachtung, für Deine Sicht, Deine Gedanken und die Zeit, die Du Dir bei diesem Bild genommen hast.
  • UliF 7. Oktober 2022, 12:14

    es ist da und das ist wichtig...und wenn es auch erst mal in unseren Gedanken zwischengelagert werden muss...es wird wieder gebraucht werden so wie auch Charlies Gedanken
    LG Uli
  • Gerd Tromm 7. Oktober 2022, 10:28

    interessante Geschichte zum schmalen Haus