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Kommt schon mal vor...

Kommt schon mal vor...

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blind lense


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Kommt schon mal vor...

...daß man ein Treibstangenlager reparieren muß. Denn es gehört zu den am stärksten beanspruchten Teilen einer Dampflok.

In der Dämmerung, es ist schon acht Uhr abends, wird Opladen erreicht. Die Fahrgäste sind an ihrem Ziel angelangt und steigen aus. Die Lok hängt ab. Das Treibstangenlager ist zwar sehr warm geworden, aber viel schlimmer ist ein starkes Schlagen, das jetzt die ganze Zeit vernehmbar ist und das nicht nur im Leerlauf wie bei mir auf der Frühschicht. Ich will wissen was los ist und gehe zu meinen Kollegen von der Spätschicht. Auf jeden Fall muss eine Hilfslok her. Die kommt aus Dahlhausen, die Trasse wird im Eilverfahren bestellt und der Lotse wird mit dem Taxi nach Dahlhausen gefahren, um die Überführung zu leiten.

Die P8 braucht aber erst mal Wasser. Dazu wird sie wie am Morgen in das Anschlussgleis des Schrotthändlers gefahren. Die Witze diesbezüglich lassen auch nicht lange auf sich warten. Kleine Kostprobe gefällig?

Aus Stangenlager wird Schlagelager, ein Lied der Bläckföss ertönt: „mir lasse de Lok in Kölle“, Frage „Warum klopft das Lager seit Düsseldorf Rath?“ Antwort „Damit der Bender (der Schrothändler) es rechtzeitig hört und schon das Tor aufmacht!“ Das Lokpersonal muss kübelweise Spott ertragen, aber die Jungs sind hart im nehmen.

Jetzt ist es stockdunkel. Die Feuerwehr hat ihre großen Scheinwerfer bereit und die Szene ist taghell ausgeleuchtet. Das nutzen wir, um den Schaden genau zu begutachten. Bei der festgebremsten Lok wird Dampf in den Zylinder gegeben und die Steuerung von vorwärts nach rückwärts gelegt. Da, das linke Treibstangenlager bewegt sich um gut einen Zentimeter. Das ist also der Grund für das Schlagen. Zu großes Lagerspiel. Aber die Lagerschalen sind fest gegeneinander geschraubt. Da kann man nichts nachstellen. Das Lager ist defekt, weil es ausgeschlagen ist. Wir fassen den Entschluss, die Treibstange abzubauen, damit die Rückfahrt nicht im Schleichtempo erfolgen muss. Wir überlegen, wie wir vorgehen wollen. Das Abbauen der Treibstangen war in früheren Zeiten notwendiges Übel. Seit über zehn Jahren haben wir diese Technik nicht mehr praktiziert. Also muss etwas Gehirnschmalz verbraten werden. Glücklicherweise steht die Lok so, dass sich der Treibzapfen auf dieser Seite an der tiefsten Stelle befindet. Wir benötigen nur noch ein wenig Werkzeug. Hammer und die erforderlichen Schraubenschlüssel sind bis auf einen vorhanden. Was fehlt sind Knipsstangen oder ein Kettenzug.

Zahlreiche Schaulustige stehen um die Lok. Als die Feuerwehr fertig ist, baut sie natürlich auch die Scheinwerfer ab. Die Schaulustigen werden weniger. Eine Taschenlampe und eine Handlampe sind die einzigen Lichtquellen. Wenige Zuschauer stehen noch am Ort des Geschehens. Ein Mitarbeiter der örtlichen Bahnmeisterei fragt, ob er helfen kann. So recht wissen wir es nicht, bedanken uns aber für das Angebot. Mit einem Splintenzieher werden erst einmal alle Sicherungssplinte gezogen. Jetzt können die Kontermuttern und alle Schrauben gelockert werden. Aber was ist mit dem Königsbolzen. Da fehlt der 95er Schlüssel. Durch beherztes Schlagen mit einem Hammer auf die Kante der Mutter gelingt es, diese zu lösen. Nur den Bolzen selbst bekommt man mit einem solchen Hammer nicht heraus. Der Mitarbeiter der BM, er war noch anwesend, holt aus seinem Fundus zwei Zehnpfünder. Die Jungs von der Spätschicht hebeln mit einem der zahlreich herumliegenden Kanthölzern die Treibstange an, während ich mit dem Zehnpfünder und einem satten Schlag den Bolzen aus dem Kreuzkopfauge heraustreibe. So, das wäre geschafft. Jetzt wird der Kreuzkopf vorgeschoben, damit die Treibstange nach unten abgelassen werden kann. Der Mitarbeiter der BM hilft mit. Er ist allein übrig geblieben. Alle anderen Schaulustigen haben sich mittlerweile entfernt. Die Gegenkurbel wird abgebaut, und jetzt kann, ohne das Lagerschloss zu öffnen, die Treibstange vom Treibzapfen gehoben werden. Die Stange ist abgebaut, aber jetzt muß sie noch verladen werden.

Zu viert schieben wir die Treibstange in das Führerhaus und verkeilen sie dort, so daß ein Bewegen der Stange unmöglich wird. Das war ja leichter als erwartet. Nun, es war nicht ganz so leicht wie hier beschrieben, so eine Stange wiegt schon ein paar Kilos.

Kommentare 9

  • BR 45 29. August 2013, 18:05

    Ein Klassefoto und die erklärende Geschichte ist vom Feinsten.
    Und wieder etwas gelernt ... Danke!
    Grüsse Andy
  • Joachim Engelbracht 9. Oktober 2012, 18:12

    Mir hat so ein Ausbau einer Treibstange Spass gemacht.
    Obwohl das im Schuppen ja ganz was anderes ist, wie da draußen auf der Strecke.
    Gut das Du das festgehalten hast. So kann man sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild machen.
    Reichsbahnausbesserungswerk II
    Reichsbahnausbesserungswerk II
    blind lense

    Liebe Grüße: Achim
  • blind lense 9. Oktober 2012, 9:59

    @Alle. Ganz herzlichen Dank für eure Anmerkungen. Natürlich ist diese Szene gestellt. Das Foto habe ich mit dem Selbstauslöser gemacht, da kann man eben keine echte Arbeit zeigen. Aber was soll's.

    Ich hatte mir überlegt, ob ich ähnlich wie im Vorschaubild nicht einen Ausschnitt vergrößere. Aber ich fand diese Lösung interessanter, weil die durch den Scheinwerfer überstrahlten Flächen kleiner wirken.

    @Alex Grimmer bewundert unser Können beim "Verladen" der Treibstange. Das wäre eine Geschiche für sich. In kurzen Worten: Die Stange wurde mit vier Mann aufgerichtet und an die Treppe gelehnt. Das Bolzenauge zeigte dabei nach oben. Drei Mann hoben nun die Stange an und der vierte kippte die Stange nach innen in den Führerstand. Unter Ausnutzung der Hebelgesetze war es kein Problem die Stange auf den Führerstand zu bekommen. Abgeladen haben wir sie aber mit einem Kran.
  • Thomas Jüngling 8. Oktober 2012, 11:29

    Eine wirklich gelungene Doku, die den Betrachter an jedem Detail der Arbeit teilhaben lässt. Hier wird einmal sehr anschaulich vermittelt, mit welchen Alltagsproblemen die Lokpersonale einst zu kämpfen hatten. Danke für den ausführlichen Text zum Bild!

    Gruß Thomas
  • Andreas Pe 8. Oktober 2012, 11:05

    Ja, die Reparaturen an der Dampflok benötigen häufig auch gehörige Muskelkraft. Das Bild gefällt durch seine Lichtstimmung, die Erklärung dazu ist wieder Spitze.
    VG Andreas
  • blind lense 8. Oktober 2012, 10:38

    Noch eine kleine Erläuterung zum Bild: Das Foto ist im Oktober vor drei Jahren entstanden. Wer genau hinschaut erkennt, daß die Lok noch die abgefahrenen Radreifen hat. Kurz zuvor war die Lok in Seelze auf der Unterflurdrehbank. Bei dieser Fahrt haben wir bemerkt, daß das linke Treibstangenlager zum Warmlaufen neigt. Mit Bordmitteln haben wir in Seelze eine Notreparatur durchgeführt. Aber jetzt stand das Brückenfest in Solingen an, da war ein Neuausguß fällig. Bis in die Nacht hinein haben wir noch gearbeitet, weil das Lager auf die letzte Minute eingetroffen ist. Das frisch geschabte und angepaßte Lager wird grade in das Stangenschloß eingebaut. Wie man alles an die Lok bekommt, kann dieses kleine Video zeigen:

    http://youtu.be/A2KHQYs81qg

    Wundert euch nicht über die Musik, sie muß die Gespräche überdecken.

  • makna 8. Oktober 2012, 8:16

    Abenteuerlich ... eine sehr lebendige Beschreibung! Und ein in Museumsbahntagen seltenes Vorkommnis, das ihr bravourös gelöst habt (auch Dank des Bahnmeisterei-Kollegen). Das soll Euch erst einmal einer nachmachen! Das Foto spiegelt diese Atmosphäre genau wieder !!!
    BG Manfred
  • Alex Grimmer 8. Oktober 2012, 7:36

    Eine Beeindruckende Geschichte! Nun habt ihr eine Relativ kleine Treibstange(im vergleich zu unserer 52.80) und dennoch Wiegt diese ein wenig, also ich Beneide euch nicht um diese Aktion, besonders die Treibstange ohne Maschinelle Hilfe auf den Führerstand zu hiefen.Respekt!

    Gruß, Alex