Zurück zur Liste
Eine unbequeme Wahrheit

Eine unbequeme Wahrheit

949 10

Eine unbequeme Wahrheit

Silke Wagner, Münsters Geschichte von unten, skulptur projekte münster 07



Dass die meisten der in der diesjährigen skulptur projekte münster gezeigten Arbeiten mit dem klassischen Kunstbegriff, der von der überragenden schöpferischen Fähigkeit des Künstlers selbst, ob er nun Maler oder Bildhauer ist, ausgeht, nicht adäquat gewürdigt werden können, ist bereits von verschiedenen Seiten bemerkt worden. Es liegt auf der Hand, dass jemand, der zu einer Skulptur nur die Idee beisteuert und sie dann von fachkundigen Handwerkern bauen lässt, eher mit der Bezeichnung Konzeptualist zutreffend eingeordnet wird.

Dessen ungeachtet sind natürlich auch so entstandene Projekte eine Auseinandersetzung wert. Eine der lautesten, wenn nicht die lauteste, und problematischsten, wenn nicht die problematischste, Arbeiten ist Silke Wagners “Münsters Geschichte von unten” genannte 3,40 Meter hohe Skulptur vor dem Stadthaus I im Zentrum Münsters, die das Portrait von Paul Wulf (1921-1999) zeigt.

Paul Wulf war im Alter von sieben Jahren in ein Heim gekommen und 1932 in die jugendpsychiatrische Anstalt Marsberg verlegt worden. 1938 wurde er, 16 Jahre alt, zwangssterilisiert. Entsprechend den Zeitläuften war diese Maßnahme, der seine Eltern zustimmten, die einzige Möglichkeit, seine Entlassung aus der Anstalt zu erreichen; ansonsten wäre er mit ziemlicher Sicherheit aufgrund der Diagnose “angeborener Schwachsinn ersten Grades” ermordet worden.

Nach dem Krieg widmete sich Wulf der Aufarbeitung der Taten des NS-Regimes. Es wird berichtet, dass er täglich in Bibliotheken und Archiven recherchierte, um Material zu finden, das er für seine zahlreichen Ausstellungen nutzen konnte. Hierbei ging es um die Euthanasie, die Situation der Frauen, der Jugendlichen und der Sinti und Roma im NS-Staat. In diesen Ausstellungen wurden in Collagenform Zusammenhänge verdeutlicht; zu dieser Methode wurde Wulf unter anderem durch den Dadaisten John Heartfield angeregt. Legendär ist seine Aktentasche, aus der er immer seine neuesten Funde zog.

Wenn nun die meistverbreitete Beschreibung der Skulptur ausführt, dass Wulf seit 1949 ergebnislose Prozesse gegen den Staat geführt habe, und es dabei belässt, wird allerdings Entscheidendes verschwiegen. 1950 hat das Amtsgericht Hagen entschieden, dass die oben erwähnte Diagnose nicht aufrechterhalten könne. Freilich wurde Wulf erst 1979 eine Erwerbsunfähigkeitsernte bewilligt. 1991 erhielt er das Bundesverdienstkreuz.

Bei alledem war Wulf vielleicht nicht der bequemste Zeitgenosse. Von den einen als humorvoll geschildert, wird er von anderen als querulatorischer und kauziger Weltverbesserer bezeichnet. Der über die Stadt hinaus bekannte Autor Jürgen Kehrer meint im Magazin No. 2 der Westfälischen Nachrichten zur Skulpturenausstellung: “... jeder Journalist (wie ich) wurde von einem spontanen Fluchtreflex gepackt, sobald er Paul Wulf auf der Straße erblickte. Denn unter einer Viertelstunde (Minimum) kam man nicht an ihm vorbei. Als Litfasssäule, wie Silke Wagner ihn darstellt, hätte Paul Wulf sich wahrscheinlich selbst gern gesehen, jedem, der ihm über den Weg läuft, sein Anliegen präsentierend.”

Leider ist diese Skulptur wie kaum eine andere der Zerstörungssucht von Mitmenschen ausgesetzt, die ihre Energien offenbar an der falschen Stelle verschwenden. So musste die Brille Wulfs mehrfach repariert und schließlich ersetzt werden; die Aufnahme zeigt diesen Befund.

12. 7. 2007. Nikon F 100 mit Zoom-Nikkor 3,5-5,6 / 28-200 mm G auf Fuji Superia 200. Bearbeitung: Adobe Photoshop CS 2 und Ulead PhotoImpact 11 (Tonwertkorrektur, Sonnenlichtfilter 20%).

Kommentare 10

  • E. W. R. 7. Januar 2011, 20:20

    Lieber Werner, inzwischen ist das Kunstwerk wieder aufgestellt worden, und noch vor der Einweihung haben es betrunkene mente capti mit Steinen beworfen, so dass die Brille gleich wieder entzwei war.
  • † werner weis 7. Januar 2011, 8:30



    gebrochene Brille
    es gibt viel zu tun
  • E. W. R. 25. Oktober 2009, 17:49

    Lieber Werner, gegenwärtig streitet man sich in Münster, ob man das Kunstwerk wieder aufstellen soll, wenn ja, wo und wie finanziert ...
  • † werner weis 10. Oktober 2009, 12:03

    hier ein Gesicht, das deutlich wirkt
    künstlich nicht, aber kunstvoll
    Kunst
    im Raum draußen
    vielleicht sogar umsonst

  • E. W. R. 19. Januar 2008, 10:31

    Danke! Eine Geschichte, an die sich auch im übertragenen Sinn keiner so recht heranwagen mag. Neuerdings ist ein Vorschlag gemacht worden, die Skulptur an einem anderen Platz in Münster zu erhalten.
  • † Richard. H Fischer 18. Januar 2008, 23:00

    Ein sehr interessantes Bild mit einer tiefen Geschichte. Sehr gut in's Bild gebracht. Lieben Gruß, Richard
  • E. W. R. 4. Dezember 2007, 20:19

    Na ja, da gibt es verschiedene Meinungen. Einige halten die Aussage der Plastik so, wie sie ist, auch für zu manipulativ (s. oben); da müsste schon ein ehrlicher Diskurs her. Vielleicht findet sich ein privater Investor, der die Plastik auf seinem eigenen Grundstück aufstellt; hier ging es ja nur um die Frage, ob die Stadt die Plastik kaufen und an einem öffentlichen Ort aufstellen soll. Und öffentlich war der Ort während der Ausstellung maximal, nämlich vor dem Haus der Stadtverwaltung mitten in Münster.
  • Helene Kramarcsik 2. Dezember 2007, 18:49

    Wen wundert es da, daß sich der Stadtrat gegen einen Erhalt ausgesprochen hat. Unbequemes muß eben aus der Welt geschaffen werden, wenn auch das der flasche Weg ist.
    LG Helene
  • E. W. R. 2. Dezember 2007, 12:47

    Unbequem ist aber vor allem auch, dass die Geschichte von Paul Wulf in der Öffentlichkeit dermaßen verkürzt dargestellt wurde, dass die von ihm erzählte Geschichte einer Lüge gleichkam. Und unbequem ist die Skulptur auch jetzt nach dem Ende der Skulpturenausstellung, wo es darum geht, welche Skulpturen der Öffentlichkeit erhalten bleiben sollen. Da hat die Mehrheit im Rat der Stadt Münster sich gegen einen Erhalt der Skulptur ausgesprochen und damit eine Diskussion ausgelöst, die aber auch wieder teilweise mit den falschen Argumenten geführt wird.
  • Helene Kramarcsik 30. November 2007, 18:00

    Mit Deiner Information wird diese Skulptur erst richtig verständlich. Eine schreckliche Geschichte steht hinter dieser Skulptur und sie ist auch stellvertretend für viele ähnliche Schicksale während dieser Zeit. Mir leider unverständlich, daß es dann noch immer Mitmenschen gibt, welche deren Zerstörungswut hier auslassen können. Sicher auch eine unangenehme Warnung und bei so manchen Menschen vermutlich auch das schlechte Gewissen weckend, mag einer der Gründe dafür sein?
    LG Helene