1.962 13

3 Sekunden

Ginger White: Die drei Sekunden der Dekadenz

Immer wieder hatte ich auf den Knopf geschlagen, mit letzten Kräften, mir wurde immer blümeranter und ich schlug weiter, immer wieder auf den Knopf - ab dann weiß ich nichts mehr

Ich wachte dann um 2:30 Uhr auf. Meine Digital-Uhr konnte leuchten. Es war stockdunkel. Doch der Schein der Uhr ließ Umrisse erkennen. Ich erkannter eine Kabine. Ich schonte ab dann die Batterie. Ich tastete die Wände und wähnte mich in einem Traum, es wurde mir aber schlagartig klar, dass ich in der Realität weilte.

Das Tasten stellte ich erst nach langer Zeit ein, ich kannte alles auswendig, was hier tastbar war, die glatten kalten Wände, die Erhebungen der Schilder, die verschiedenen Knöpfe, drei groß und platt und einer wie ein Pilz geformt.

Dies war alles kein Problem, aber meine Steifheit war eines, ich konnte mich nur schwer bewegen, immer wieder sackte ich zusammen. Was war geschehen? Ich wusste es nicht.

Allmählich nahm ich die Eiseskälte wahr, es musste unter Null hier sein, vielleicht auch leicht drüber, denn nirgendwo waren Eisblumen tastbar. Anscheinend hatte ich hier alle Zeit der Welt, wenn mein Körper durchhielt.

Ich hatte von einem gelesen, der in eine Kühlhalle bei minus 20 eingeschlossen gewesen war, zwischen 18 Uhr und 6 Uhr des nächsten Morgens, er hatte überlebt, weil er immerzu die 700 Kartons mit den jeweils 25 gefrorenen Hähnchenschenkeln vom einen Ende der Kühlhalle die 20 Meter zum anderen Ende der Kühlhalle geschleppt hatte, um sie dort sauber aufzustapeln, und vice versa. 12 Stunden lang. Er hatte überlebt.

Ich kam auf die Knie, um die Knöpfe zu bedienen, die Knie schienen zu bluten, doch ich fühlte nichts Flüssiges. Es war stockdunkel, ich ließ die Augen geschlossen und tastete.

Ich presste die beiden Hände mit Druck lange auf die Knöpfe, erst auf den ganz oben, dann auf den rechts davon und dann auf den darunter - nix geschah. Dann nahm ich mir den Pilz vor. Ich drückte ausgiebig und ich hatte Schwierigkeiten, er ließ sich nicht drücken, dann drückte ich auf den Füßen stehend, ich weiß nicht mehr, wie ich es schaffte, mich aufzurichten, lange mit der Kraft des vollen Körpereinsatzes, lange, lange, sehr lange...

Irgendwann durchdrückte ich die Blockade dieses Knopfes und er rastete fest ein. Ein paar Leuchtdioden begannen wild zu blinken, sie blinkten immer hektischer und aber auch immer lichtschwächer, dann schmierten sie ab, alles war wieder dunkel und nix war geschehen. Es war kalt.

Ich dachte wieder an den Überlebenden der Kühlhalle und begann damit, mich vollkommen nackt auszuziehen und dann wieder vollkommen anzuziehen, Lederjacke, Hemd, T-Shirt, Boxershorts, Schuhe, Socken, die weiße Levis-Jeans... und wieder von vorne.... ich wurde immer geschmeidiger - 500 Male tat ich dies - oder öfter noch.

Ich hatte zwar weiterhin permanent das Gefühl, überall zu bluten, aber in der Dunkelheit dieser Stahlkabine, sie war wie eine Laffette und ich war das Geschoss, da begann ich zu glühen.

Ich hielt durch, bis 6 Uhr morgens. Ich blieb bei Bewusstsein bis 6 Uhr morgens.

Das Licht ging um 6 Uhr an. Bald kam der Erste. Er war so richtig Scheisse. Er ging weiter zum Zug, er nahm die Treppen.

Um 6:15 Uhr kam eine Frau, sie war in einen Parka und braune Strumpfhosen und einen roten Rock und schwarze Stiefel gekleidet. Sie sah mich und klopfte an das Glas. Sie schrie, dass sie den Zug noch bekommen müsste, sonst...

Doch sie nahm ihr Handy und wählte 112 und sie schrieb mir mit Lippenstift ihre Handy-Nummer auf das Glas.

Dann kamen um 7 Uhr die Sanitäter.

Als ich um 17 Uhr aus der Narkose erwachte, beugte sie sich über mich. Sie hatte ihre Lippen frisch mit dem Lippenstift nachgezogen. Ich sagte nur:
Ich liebe Dich!

Wir küssten uns lange.

Kommentare 13

  • Marina Luise 2. Dezember 2009, 13:50

    Bin völlig fertig - das ist mein Alptraum im Fahrstuhl eingeschlossen zu sein! :(((
    Spannend erzâhlt!
  • Diamantfeder 29. April 2009, 22:26

    Spannend, durchgehend spannend.... ich habs gern gelesen...
    LG heidi
  • † werner weis 29. April 2009, 16:35

    ich habe geschätzt wie oft ich mich aus-/anzog.
    Zum Mit-Zählen kam ich nicht.
  • † werner weis 29. April 2009, 16:32

    heute erreichte mich dieser Brief zu Foto und Erzählung:

    Hallo Werner,
    sehr beeindruckend.
    Beeindruckende Fantasie, auf Grund der Beschilderung eines Notruf-Knopfes so ein Lift-Horrorszenario zu entwickeln.
    Beeindruckende Leistung, sich in weniger als 40 Sekunden komplett aus-und wiederanzuziehen. Und das auch noch mit regelmäßiger Wiederholung. Stundenlang. Da muss man ja hinterher ins Krankenhaus.
    Und dann dieses Happy-end. Traumhaft.


    Hierzu mal ein paar kleine Realitäten von mir:
    dass man diesen Notruf-Knopf drei Sekunden drücken muss damit die Funktion nicht ständig aus Versehen ausgelöst wird, wird dir ohne Frage schon klar sein.
    Dass diese Funktion dann über so eine fragile Telefonleitung weitergeleitet wird, macht ihn nicht wirklich vertrauenserweckend. Immerhin, die Funktion soll vom Aufzugs-Wärter regelmäßig geprüft werden. Das habe ich als solcher nämlich gelernt...

    Kälte: es war irgendwann im Herbst oder Frühjahr vor einigen Jahren, da bin ich zusammen mit drei Kollegen auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof gestrandet nachdem unser ICE den Dienst versagt hatte.
    Wir standen da oben auf dem Bahnsteig und es war saukalt. Ein Kollege hatte einen Diskman mit, und darin eine Scheibe mit "Salsa Bonita". Wir haben uns dann mit zwei Personen den Kopfhörer geteilt, und innerhalb kürzester Zeit war zumindest bei mir die Temperatur so weit wieder in Ordnung. So schön kann tanzen sein...

    Gruß, D.L.
  • Rolf Gleitsmann 28. April 2009, 11:11

    Das Schönste an Deinem Kurzroman ist der langanhaltende Zungenkuss. Letztlich hat sich doch alles irgendwie gelohnt. Von einem schlichten Schild eine Geschichte abgeleitet, Kompliment Werner. Gruß Rolf
  • Brigitte Specht 28. April 2009, 9:35

    .....ich bin schon zweimal im Fahrstuhl stecken geblieben ( -- leider kein Traum, sondern die brutale Realität ..::)) !! )und diese Geschichte ist für mich bei meiner Platzangst der reinste Horror !!!!!!!
    Aber wunderschön hast Du sie geschrieben..::))
    L.G.Brigitte
  • Wolfgang Weninger 27. April 2009, 21:32

    manchmal wird eben alles wieder gut :-)
    Servus, Wolfgang
  • Willi Thiel 27. April 2009, 21:05

    dramatische beschreibung eines einfachen unfalls...
    haste gut gemacht werner
    g willi
  • Gisela Aul 27. April 2009, 11:29

    wenn träume so enden.....lass ich es mir auch gefallen
    lg. Gisela
  • webhein 26. April 2009, 23:28

    Drei Sekunden reichen nie!!!
    Menschlich sein und mehr können wir nicht, reicht nicht!
    Was wollen wir, alles was wir wollen, endet im Nichts.
    NIchts sind wir und wenn wir wissen, dass wir nichts sind, wissen wir immer noch nichts! Nichts!
    VG Henry

  • Inge Striedinger 26. April 2009, 23:24

    Alpträume die so enden, gibt es wohl selten! Eine spannende Novelle von einem der auszog alle Notruf -Knöpfe zu drücken und zu sehen was dann passiert ...
    LG Inge
  • Adrena Lin 26. April 2009, 22:50

    Happy End.....!!!
    "Nur" ein Schild.....und Du kannst einen "Roman" daraus machen....Respekt !
    LG Andrea