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. . . dem Enz seine Zeit (5)

. . . dem Enz seine Zeit (5)

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Neydhart von Gmunden


Premium (Basic), Hamburg

. . . dem Enz seine Zeit (5)

Er hatte sich verändert, sein bedrückter Gesichtsaus­druck sprach nicht mehr
von der Verzweiflung darüber, vergesslich zu sein, sondern von der tiefen
Heimatlosigkeit eines Menschen, dem die ganze Welt fremd geworden war.
In Kombination mit der Überzeugung, dass ein simpler Ortswechsel diese
Heimatlosigkeit beseitigen werde, ent­stand eine Pattsituation, aus der sich
der Vater oft tagelang nicht befreien konnte.

Wenn er sagte, dass er nach Hause gehe, richtete sich diese Absicht in
Wahrheit nicht gegen den Ort, von dem er weg wollte, sondern gegen die
Situation, in der er sich fremd und unglücklich fühlte. Gemeint war also nicht
der Ort, sondern die Krankheit, und die Krankheit nahm er überallhin mit,
auch in sein Elternhaus.
Sein Elternhaus war nur einen Katzensprung entfernt, blieb aber trotzdem ein
unerreichbarer Ort, und das keineswegs, weil der Vater es mit den Füßen
nicht bis dorthin schaffte, sondern weil ein Aufenthalt im Elternhaus nicht ein-
löste, was sich der Vater davon versprach.

Mit der Krankheit nahm er die Unmöglichkeit, sich geborgen zu fühlen, an
den Fußsoh­len mit. Krank wie er war, konnte er den Einfluss der Krankheit
auf seine Wahrnehmung des Ortes nicht durch­schauen.
Und seine Familie konnte unterdessen täglich beobachten, was Heimweh ist.
Er tat uns unendlich leid.
Und erst Jahre später begriff ich, dass der Wunsch, nach Hause zu gehen,
etwas zutiefst Menschliches enthält. Spontan vollzog der Vater, was die
Menschheit vollzogen hatte: Als Heilmittel gegen ein erschreckendes, nicht
zu enträtselndes Leben hatte er einen Ort bezeichnet, an dem Geborgenheit
möglich sein würde, wenn er ihn erreichte. Diesen Ort des Trostes nannte
der Vater Zuhause, der Gläu­bige nennt ihn Himmelreich.
Wo man zu Hause ist, leben Menschen, die einem vertraut sind und die in
einer verständlichen Sprache sprechen.

Zitat aus: Der alte König in seinem Exil (Arno Geiger)

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