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Mit den Augen eines Wolfes

Mit den Augen eines Wolfes

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Mario Voigt


Premium (Basic), Schwalmtal

Mit den Augen eines Wolfes

Seit den Zeiten, als nur Sonne und Mond uns Licht gaben, kannte ich dich. Aus den riesigen und undurchdringlichen Wäldern heraus beobachtete ich dich. Ich war Zeuge, als du das Feuer bändigtest und fremdartige neue Werkzeuge machtest. Von den Kämmen der Hügel und Berge aus sah ich dich jagen und beneidete dich um deine Jagderfolge. Ich fraß deine Beutereste und du fraßt meine Beutereste. Ich lauschte deinen Gesängen und sah deinen Schatten um die hellen Feuer tanzen. In einer Zeit so weit zurück, dass ich mich kaum mehr erinnern kann, schlossen sich einige von uns dir an, um mit dir am Feuer zu sitzen. Sie wurden Mitglieder deines Rudels, jagten mit dir, beschützten deine Welpen, halfen dir, fürchteten dich, liebten dich.

Und für sehr lange Zeit lebten wir so zusammen, denn unsere Wesen waren sich sehr ähnlich. Deshalb hast du die Zahmen von uns adoptiert. Ich weiss, einige von euch respektieren auch mich, den Wilden. Ich sah dich oft gemeinsam mit den Zahmen Beute erlegen. In jenen Zeiten gab es alles im Überfluss. Es gab nur wenige von euch. Die Wälder waren groß. Wir heulten zusammen mit den Zahmen in der Nacht. Einige von ihnen kehrten zu uns zurück, um mit uns zu jagen. Einige von ihnen fraßen wir, denn sie waren uns fremd geworden. So lebten wir zusammen in langen langen Zeiten. Es war ein gutes Leben.

Manchmal stahl ich von deiner Beute und du stahlst von meiner Beute. Erinnerst du dich, wie dein Rudel hungerte als der Schnee hoch lag? Du frasst die Beute, die wir erlegt haben. Das war unser Spiel. Das war unsere gegenseitige Schuld. Manche nannten es ein Versprechen. Wie viele der Zahmen aber wurdest auch du uns immer fremder. Wir waren uns einst sehr ähnlich, aber jetzt erkenne ich einige der Zahmen nicht mehr und ich erkenne auch einige von euch nicht mehr. Du machtest auch die Beute zahm. Als ich begann deine zahme Beute zu jagen (es waren dumme Kreaturen, auf die die Jagd keine Herausforderung war, aber die wilde Beute war verschwunden), jagtest du mich und ich verstand nicht, warum.

Als deine Rudel immer größer wurden und begannen gegeneinander zu kämpfen, sah ich eure großen Kriege. Ich fraß jene, die du erschlagen hattest. Du jagtest mich noch mehr, denn für mich waren sie Nahrung aber du hattest sie getötet. Wir Wilden sind nur noch wenige. Du zerstörtest unsere Wälder und brachtest viele von uns um. Aber ich jage immer noch und füttere meine versteckten Welpen, wie ich es immer getan haben.

Ich frage mich, ob die Zahmen eine weise Wahl trafen, als sie sich euch anschlossen. Sie haben den Geist der Wildnis vergessen. Es gibt viele, viele von ihnen, aber sie sind mir sehr fremd. Wir sind nur noch wenige und ich beobachte dich immer noch, um dir auszuweichen.

Ich denke, ich kenne dich nicht mehr länger.
(Canis Lupus)

Im Internet gefunden.

Kommentare 13

  • Annette He 28. Mai 2011, 21:25

    Ein sehr tiefgründiger Text, der traurig macht. Wenn ich ein wildes Tier sehe und es läuft nicht gleich vor mir weg, dann empfinde ich das als Ehre, das es meine Anwesenheit duldet. In Deinem Bild kann ich mir sehr gut einen Wolf vorstellen, der Dich still beobachtet. Ich finde es wunderbar.

    LG Annette
  • Andreas Schaarschmidt 5. September 2010, 1:54

    ein text, der es in sich hat
    zum bild. ausschnitt einwenig zu eng. dafür herrlich vom licht und mit der spiegelung
  • Liberty Photography 29. August 2010, 17:39

    ...das ist mehr als gut!

    lg Suzette
  • Peter van Bohemen 19. August 2010, 18:37

    Erstklassiger Text und ein sehr schönes Bild dazu.
    LG Peter
  • Frau Luna. 18. August 2010, 23:57

    Einfach nur gut!! Ein traumhaft schönes Bild in wundervollen warmen Farben - und ein Text, der berührt und dazu inspiriert, mit den Augen des Wolfes zu sehen und über unsere Art zu leben nachzudenken...eine geniale Kombination!
    Liebe Grüße von
    Martina
  • Enzo48 18. August 2010, 23:06

    Die Story zum großartigen Bild packt einen richtig an.
    Glückwunsch, Mario !
  • Frank Seifert 18. August 2010, 22:33

    Vom Feinsten!
    VG Frank
  • Kathi1 18. August 2010, 21:51

    Herrlich stimmungsvoll diese Wald-Wasser-Landschaft mit den Farben und den Spiegelungen.
    LG
  • Daniel Borberg 18. August 2010, 20:59

    Ein sehr schönes Bild! Das Licht und die Spiegelung sind sehr genial.
    Gut Licht aus Moers,
    Daniel
  • Andreas Hinzer 18. August 2010, 19:54

    Mario, das ist mal richtig gut !!!
    Das Bild wird noch viel besser durch den geilen Text, regt die Phantasie an und saugt ein viel mehr in den Wald hinter den See als wenn drunter nur "Badesee in Ostsachsen" stehen würde .
    Bildqulaität auch super
    +++++
    LG Andreas
  • rossiphotographer 18. August 2010, 18:33

    Schönes Bild, die Spiegelung ist einmalig.

    Liebe Grüße Dif.
  • DiBoll 18. August 2010, 18:15

    Hallo Mario!
    Klasse Lichtspiel.
    Schöne Farben.
    Feine Spiegelung.

    ______lg Dirk
  • dee da 18. August 2010, 18:09

    ..ein nachdenklicher text, der sehr gut zu deinem bild passt, dass mir außerordentlich gut gefällt.....

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