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Leben heißt ein anderer sein.

Leben heißt ein anderer sein.

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sortie | de | camions


kostenloses Benutzerkonto, lauter Sehsucht

Leben heißt ein anderer sein.

Es ist nicht einmal möglich zu fühlen, wenn man heute fühlt, wie man gestern gefühlt hat: Heute dasselbe fühlen wie gestern heißt nicht fühlen – heißt sich heute an das erinnern, was man gestern gefühlt hat, heute der lebendige Leichnam dessen sein, was gestern das verlorene Leben war.
Von der Tafel eines Tages alles bis zum nächsten Tag auslöschen, mit jedem Morgengrauen neu sein in ständig erneuerter Jungfräulichkeit der Empfindung – das und allein das lohnt die Mühe zu sein oder zu haben, um das zu sein oder zu haben, was wir auf unvollkommene Weise sind.
Dieses Morgengrauen ist das erste der Welt. Niemals hat dieses von gelb in ein warmes Weiß hineinspielende Rosa auf dieses Weise auf dem Gesicht gelegen, mit welchem der Häuserblock im Westen glasigen Auges das Schweigen anschaut, das mit dem wachsenden Licht aufkommt. Niemals hat es diese Stunde gegeben, dieses Licht oder auch dieses mein Sein. Was morgen sein wird, ist etwas anderes, und was ich dann sehen werde, sehen erneuerte Augen, erfüllt von einer neuen Vision.
Ihr hohen Berge der Stadt! Ihr großen Baulichkeiten, die die steilen Abhänge sichern und größer machen, ihr hinabgleitenden, mannigfach abgestuften Gebäude aus Schatten und Bränden – ihr seid heute, ihr seid ich; weil ich euch sehe, so seid ihr, und ich liebe auch von der Reling aus wie ein Schiff, das an einem anderen Schiff vorüberfährt, und im Vorüberfahren erwacht eine unbekannte Sehnsucht.

18.5.1930

Fernando Pessoa, Livro do Dessassossego [Das Buch der Unruhe]

Gestaltet unter Verwendung einer Pessoa-Zeichnung von Júlio Pomar und eines von Pessoa ausgestellten Horoskops für sein Heteronym Alberto Caeiro [Heteronym: Pessoa erschuf drei Pseudonyme mit eigenständiger poetischer und biographischer Existenz: Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Alvaro do Campos, in deren Leben er sich gelegentlich als sein eigenes Heteronym verirrte, die aber ansonsten ‘autonom’ waren.]

Kommentare 14

  • kirsten t 30. September 2004, 20:06

    ja, sehr ....
    der text ist einfach toll,
    dazu das foto mit dieser bearbeitung -
    mag ich sehr
    lg kirsten
  • Der Dicke II 29. September 2004, 19:33

    .... faszinierend ....
  • elvisfirewolf 29. September 2004, 18:45

    @michel:
    ich dussel! ich habs nochmal gelesen und da fiel es mir wie schuppen aus den haaren! na klar! :))))
    ich war so gefangen von den ersten zeilen, dass mir das gar nicht aufgefallen ist!
  • sortie | de | camions 29. September 2004, 17:21

    @alle - obrigado!
    @Sylvia - so schön gesagt: "Wie ein Angebot des Lebens, dieses zu entdecken und zu erforschen bietet sich die Stadt dar." vielleicht tut das jede Stadt, aber Lissabon ist für mich etwas ganz besonderes. allein dieser Blick hier über die Alfama hinunter zum Tejo ist eine Reise wert... *schwärm*
    @Dieter - ich weiß, das ich euch viel zumute, aber den Text wollte ich nicht kürzen, er gehört so... ;-)
    @Wolfgang - einen direkten Bezug gibt's im letzten Absatz.
    @Hans - den Film kenn ich [noch] nicht.
  • Der Grüne Hund 29. September 2004, 15:06

    gut mit der schrift drauf
  • .ina. 29. September 2004, 12:17

    oh, wer lesen kann ist klar im Vorteil. ((o:
  • .ina. 29. September 2004, 12:06

    oh wunderschön, ist das in Lissabon? Mich hat der Blick über die Dächer und das tolle Licht dort total fasziniert. Deine Idee, es zu gestalten passt ganz prima. (o:
  • I arkadas I 29. September 2004, 9:44

    ... bin ehrlich...
    hab mir fast nix hier durchgelesen..
    weil...
    sah das bild und das hat mich sofort an den kinofilm
    A Beautiful Mind
    erinnert...
    http://www.kino.de/megasuche.php4?typ=filme&wort=a+beautiful+mind
    lg hans geh
  • sortie | de | camions 29. September 2004, 9:36

    @Fernando - wohl...! ich hab die deutsche Erstausgabe, da steht's drin. und überhaupt, du als Spanier... :-)

    P.S. hab noch mal nachgesehen: die Schreibweise mit Doppel-s ist wirklich die zahlenmäßig unterlegene, aber auch bei den Portugiesen kommt sie ab und zu vor. vielleicht eine alte Schreibweise?
  • Fernando O.M. 29. September 2004, 9:33

    Ach, ja, der grosse Pessoa und Lissabon...
    ('Desassossego' hat nicht so viele 's') :)
  • elvisfirewolf 29. September 2004, 9:27

    ich kenne das buch nicht, aber ich würde es gerne lesen!
    fantastischer text! :)))
    so richtig erschliesst sich mir der bezug zum foto nicht, aber egal!
    auch das gefällt mir. also, das foto. nicht, dass sich mir der bezug nicht erschliesst.
  • Dieter Wundes 29. September 2004, 8:36

    Schwere Kost am frühen Morgen, aber trotzdem gut verdaulich.

    Gruß Dieter
  • Sylvia Mancini 29. September 2004, 7:50

    Wie ein Angebot des Lebens, dieses zu entdecken und zu erforschen bietet sich die Stadt dar. In einem seltsamen, einem neuen Licht. Und die Zeichnung darüber erscheint mir wie eine geheimnisvolle Gebrauchsanweisung, eine Wegbeschreibungshilfe...erinnert mich an manche Zeichnungen von Da Vinci.
  • Anita Hartner 29. September 2004, 6:00

    cool

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