Reiner H.


Premium (Pro), 50° 44' 2.37'' N ~ 7° 5' 59.33'' E

: 03 | l e a f . i n . m o t i o n

Jostein Gaarder schildert in seinem Buch "Maya oder Das Wunder des Lebens" eine a u ß e r o r d e n t l i c h e Begegnung zwischen dem Protagonisten Frank, einem norwegischen Evolutionsbiologen und einem Gecko. Die Geschichte ereignete im Januar 1998 auf der Fidschiinsel Taveuni, die genau auf der Datumsgrenze liegt. Sie gefiel mir sehr, so dass ich sie hier in 24 Teilen wiedergebe ... bis das letzte "Türchen" geöffnet werden kann.
Quelle : ISBN 3-423-13002-4, dtv


| der beginn |

: 01 | a c r y l . p a s t e
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Reiner H.

: 02 | g o r d o n
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Reiner H.



...
Ich taufte ihn Gordon, nach dem Etikett auf der Flasche. Dass es sich um ein männliches Wesen handelte, hatte ich schon festgestellt, noch ehe ich mich aufs Bett setzte. Mister Gordon hatte offenbar den Mittag seines Lebens bereits hinter sich und im Vergleich mit der durchschnittlichen Dauer eines Menschenlebens war er mir vielleicht um zwei Jahrzehnte voraus. Obwohl die Weibchen seiner Art nicht mehr als zwei Eier auf einmal legen, besaß er vermutlich eine zahlreiche Nachkommenschaft. Gordon hatte es längst zum Großvater und Urgroßvater gebracht, da war ich mir ziemlich sicher. Vielleicht hatte sein Großvater zur ersten Einwanderergeneration auf Taveuni gehört, Gordons Art war erst in den siebziger Jahren auf die Fidschiinseln gekommen.

Ich kam zu dem Schluss, dass sicher seine Lebenserfahrung dafür sorgte, auf der Flasche sitzen zu bleiben, denn jetzt war ihm völlig bewusst, dass wir uns hier gegenseitig in Schach hielten. Er hatte bestimmt die Erfahrung gemacht, dass Primaten mit Kleidern und Kopfbehaarung keine wirkliche Gefahr bedeuten, obwohl er dann auch hätte wissen müssen, dass es kein großes Risiko wäre, die Beine in die Hand zu nehmen. Aber es gab noch eine andere Möglichkeit: Gordon konnte von der neugierigeren Sorte sein oder auch ein geselliger Typ.

Ich hatte jetzt ein solches Verlangen nach einem Schluck Gin, dass ich dem Tier tief in die vertikalen Pupillen blickte und mit energischer Stimme flüsterte: “Jetzt aber runter mit dir !“
Ich glaube, er atmete etwas schwerer, vielleicht stieg sein Blutdruck einen Takt, aber ansonsten bewahrte er demonstrative Ruhe. Er erinnerte mich an Leute bei einem Sitzstreik – die einfach irgendwann von der Polizei weggetragen werden, ob sie nun gegen eine neue Autobahn oder, wie in diesem Fall, gegen zu liberale Ausschankbestimmungen demonstrieren. Im Gegensatz zu mir brauchte der Demonstrant hier nicht einmal mit den Wimpern zu zucken und die Tatsache, dass Geckos keine beweglichen Augenlider besitzen, ärgerte mich gewaltig, nicht bloß, weil ich niemals auch nur eine Sekunde mangelnder Aufmerksamkeit seinerseits würde ausnutzen können, sondern auch, weil er mich in kurzen Momenten beobachten konnte, ohne dass ich ihn sah, und ein Augenblick ist für einen Menschen ein viel kürzeres Zeitintervall als für einen Gecko. Also konnte er mich immer wieder in langen Phasen anstarren und dabei beobachten, wie ich eine träge Bewegung mit den Augenlidern nach der anderen vollzog.

„Na gut !“, sagte ich mit lauter Stimme. „Jetzt reicht´s !“
Gordon rührte sich nicht. Er war nicht nur alt, ich hatte es offenbar mit einem blasierten und lebensmatten Starrkopf zu tun, der vielleicht keine andere Kurzweil kannte als die Beschlagnahmung der dringend benötigten Nervenmedizin höherer Arten. Beschlagnahmung, ja, das war das Stichwort, denn heute hatte noch jemand eine Beschlagnahmung gestehen müssen und zwar einer, der ansonsten an das ewige Leben glaubte, der erst kürzlich von einer Frau in Stich gelassen worden war und der deshalb die ganze Nacht durchgezecht hatte, ehe er sein Oldtimerflugzeug anwarf, an diesem Morgen für nicht weniger als fünf zahlende Fluggäste. Erst in diesem Augenblick erkannte ich den Streichholzschachtel-Piloten der Sunflower Airlines wieder. Gecko Gordon hatte genau dieselbe Miene wie der angejahrte Flieger, denselben stechenden Blick, denselben verschrumpelten Hals mit der schlaffen Hautfalte unter dem Kinn, ganz zu schweigen von den spatenförmigen Geckohänden mit den fünf kurzen Fingern, Hemidactylus heißt ja schließlich „halbfingrig“, und auch der Pilot hatte zwei halbe Finger gehabt. Ich hatte das gefühl, dass das Bild sich jetzt zusammenfügte. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag nahm ich als Geisel an einem Terrordrama teil und nicht zum ersten Mal erweckte diese Situation in mir gewaltigen Durst, der gerade aufgrund der obwaltenden Umstände nicht gelöscht werden konnte.

„Hör mal“, sagte ich und blickte in die starren Augen eines entfernten Verwandten. „Ich will dich wirklich nicht abmurksen und ich glaube, ehrlich gesagt, das weißt du ganz genau. Ich will dich nicht einmal wegscheuchen. Ich will nur die Flasche, auf der du sitzt.“

Ich zweifelte nicht daran, dass er mich verstanden hatte, denn er schien zu antworten, das alles sei ihm doch längst klar, seit über einer Viertelstunde, er habe aber schon lange vor meinem Eintreffen auf der Flasche gesessen und Mücken gefangen. Ich hätte also kein Recht, darauf zu bestehen, dass er seinen Platz räumte, im Gegenteil, ich sei schließlich in sein Territorium eingedrungen, denn er habe mich hier noch nie gesehen, und wenn ich mich jetzt nicht verpisste oder ihn wenigstens in Ruhe ließe, dann würde er schon dafür sorgen, dass es keine Flasche mehr gäbe, um die wir uns zanken könnten. Außerdem wolle er noch kurz erwähnen, dass er den braunen Gürtel im Schwanzschludern besaß.

„So war das nicht gemeint“, beteuerte ich. „Wenn du mich ein paar Schlucke aus der Flasche trinken lässt, was nur ein paar Sekunden dauert, dann darfst du gern wieder drauf Platz nehmen. Ich trage übrigens den schwarzen Gürtel im Reptilienzerquetschen, und da wir einander misstrauen, schlage ich vor, dass du dich vom Nachttisch verziehst, während ich trinke.“

Er verzog keine Miene, sagte dann aber: „Das habe ich schon mal gehört.“


| hier findet die Geschichte ihre Fortsetzung |
: 04 | r e m i n i s c e n s e s
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Kommentare 8

  • majoos 10. Dezember 2011, 11:03

    Deine Fotos sind klasse! Gruß Martina (majoos)
  • Klacky von Auerbach 6. Dezember 2011, 16:08

    Aha, der Kerl kann sprechen.
    Das Bild ist sehr gut, nur ein wenig dunkel.
    Kann auch sein, daß man hier in einen dunklen Abgrund schaut.
    Mit adventlichem Gruße,
    Klacky
  • Thorsten78 3. Dezember 2011, 23:25

    Interessantes Vorhaben!
    Ich bin gespannt!
    Gruß
    Thorsten
  • M.Anderson 3. Dezember 2011, 13:16

    Edit: bin jetzt hier zum zweiten mal ... schweige und genieße
  • Reiner H. 3. Dezember 2011, 13:16

    jaja, der Rahmen ;-)))
    ihr habt natürlich Recht, der ist für diese Aufnahme schon mächtig.
    morgen werdet ihr erfahren, was ein Mückenmann ist ...

    LG @ all
    Reiner
  • Mira Culix 3. Dezember 2011, 10:56

    Die Geschichte macht Spaß, und das Foto gefällt mir auch gut!
    In diesem Fall ist mir der weiße Rahmen zu dem zarten Bild zwar fast etwas sehr mächtig, aber ich weiß, die Serie der Adventskalenderbilder soll einheitlich sein, das ist verständlich, das würde ich wohl auch so machen.
    LG mira
  • gerla 3. Dezember 2011, 10:10

    ;-)) Du hast aber auch eine tolle Geschichte ausgewählt

    Auch das Foto kann sich sehen lassen. Der Weiße Rahmen gibt dem letzten Blatt wohl etwas Halt
    lg gerla
  • M.Anderson 3. Dezember 2011, 1:45

    ---gebe das Kompliment gerne zurück ,,, Du hast nicht eine Sprache; Du hast Deine Sprache ... glg