Reiner H.


Premium (Pro), 50° 44' 2.37'' N ~ 7° 5' 59.33'' E

: 02 | g o r d o n

Jostein Gaarder schildert in seinem Buch "Maya oder Das Wunder des Lebens" eine a u ß e r o r d e n t l i c h e Begegnung zwischen dem Protagonisten Frank, einem norwegischen Evolutionsbiologen und einem Gecko. Die Geschichte ereignete im Januar 1998 auf der Fidschiinsel Taveuni, die genau auf der Datumsgrenze liegt. Sie gefiel mir sehr, so dass ich sie hier in 24 Teilen wiedergebe ... bis das letzte "Türchen" geöffnet werden kann.
(M)eine (humorvolle) Adventsgeschichte für einige mir wichtige Menschen ...
Quelle : ISBN 3-423-13002-4, dtv


| der beginn |

: 01 | a c r y l . p a s t e
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Reiner H.



...
Für die meisten Menschen bedeuten Echsen ein mysterium tremendum et fascinosum, und ich bildete keine Ausnahme von dieser Regel, obwohl ich mich doch für einen Echsenexperten halte. Es ist durchaus möglich, fachliches Interesse für beispielsweise Bakterien und Viren aufzubringen, auch wenn man sich nicht gerade nach einem Direktkontakt mit diesen Organismen sehnt. So ist es seit den Zeiten Madame Curies für alle Röntgenenthusiasten zur Selbstverständlichkeit geworden, bei ihrem durchaus interessanten Spiel mit radioaktiven Stoffen gewisse Verhaltensmaßregeln zu ergreifen. Es besteht nicht einmal ein zwingender Widerspruch zwischen einer ausgewachsenen Spinnenphobie und dem Verfassen einer humorvollen Abhandlung über die Morphologie des besagten Gliedertiers.

Was Wirbeltiere wie Geckos und Iguane betrifft, so kommt hinzu, dass sie in einem ganz anderen Grad als beispielsweise Bakterien oder Spinnen beobachtende Individuen darstellen. Seit ich zu Hause in Vestfold das tote Reh gefunden hatte, hatte ich mir immer vorgestellt, dass auch Tiere kleine Persönlichkeiten sind, und ich konnte die Vorstellung von neuen Bekanntschaften in diesem Moment nicht ertragen. Ich wollte von keiner Echse angeglotzt werde, nicht zu dieser späten Stunde, schon gar nicht innerhalb dessen, was ich als meine Privatsphäre betrachtete, für die außerdem ordentlich bezahlt worden war, und ich hatte ausdrücklich darauf bestanden, das ich meine Hütte auf keinen Fall mit einem anderen Gast teilen wollte. Insekten waren da etwas ganz anderes, die hatten mich nie in Verlegenheit gebracht, ich habe eine Stubenfliege noch nie als Person betrachten können. Eine Fliege hat kein Gesicht, hat keinen individuellen Ausdruck. Bei Echsen ist das anders, das galt auch für den standhaften Gecko auf meiner Ginflasche.

Ich hätte meinen leichten Widerwillen, dieses selbstbewusste Kriechtier anzufassen, sicher überwinden können, wenn ich schon einige Schlucke Gin intus gehabt hätte. Aber in diesem Fall kam der Reihenfolge der Ereignisse einfach die ausschlaggebende Bedeutung zu. Ich musste einen Teil des Flascheninhalts in mich hineinbringen, ehe ich den Mut aufbringen konnte, die Flasche an den Mund zu setzen. Ich steckte also in einem Dilemma und dieses kleine Terrordrama sollte sich noch viel länger hinziehen, als ich mir in diesem Moment vorstellen konnte; ich war schließlich müde, sehr müde, und um nichts in der Welt dazu bereit, mich neben einen Gecko ins Bett zu legen, solange ich nicht meinen Schlaftrunk genommen hatte.

ich konnte aber auch nicht ewig hier stehen bleiben, dazu taten mir meine Füße nach der langen Wanderung zur Datumsgrenze zu weh, außerdem wäre es mir diesem glotzenden Kriechtier gegenüber peinlich, das mich keine Sekunde aus den Augen ließ und niemals seinen Blick senkte. Als Erstes setzte ich mich deshalb vorsichtig auf das Bett, so weit von der Flasche entfernt, dass ich sie gerade noch greifen konnte, sollte es zu einer Konfrontation kommen. Das konnte ich mir durchaus vorstellen, denn dieses exzentrische Exemplar eines Halbfingergeckos war das Allerfetteste, das ich je gesehen hatte. Ich zweifelte nicht daran, dass Körpergewicht und Muskelkraft dieses Tiers die Flasche zu Boden senden würden, zumindest im schlimmsten vorstellbaren Fall, und ich konnte es mir nicht leisten, andere Fälle in Betracht zu ziehen.

Lange saßen wir so da und starrten einander an, ich auf der Bettkante, der Gecko thronend wie eine Sphinx, vor der Apothekentür. Ich hätte nur in die Hände zu klatschen brauchen und sofort hätte der Gecko seinen passiven Widerstand aufgegeben, aber weil er es dann mit seiner Flucht so eilig haben würde – oder auch bloß aus purer Bosheit -, würde er die Flasche nur einige Mikrosekunden, nachdem meine Handflächen aufeinander getroffen wären, umstoßen und es würde mehrere Zehntelsekunden dauern, ehe ein langsam reagierender Primat den Flascheninhalt vor der Vernichtung retten konnte. Wenn mich an diesen Tieren etwas beeindruckte, dann ihre fast hellseherische Reaktionsfähigkeit. Und dieses Exemplar war noch dazu ein ganz besonders aufgeweckter Vertreter seiner Art.

Ich taufte ihn Gordon …



| manchmal hat das Bild doch etwas mit dem Mückenmann zu tun |


| hier findet die Geschichte ihre Fortsetzung |
: 03 | l e a f . i n . m o t i o n
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Reiner H.

Kommentare 5

  • Klacky von Auerbach 6. Dezember 2011, 16:04

    Saugut dieser Gin auf dem interessanten Hintergrund.
    Man schmeckt ihn fast, den Gin.
    Mit adventlichem Gruße,
    Klacky
  • Reiner H. 2. Dezember 2011, 18:25

    @ all
    ich freue mich sehr, dass ich euch mit der Geschichte ein wenig "in Bann" ziehen kann und es geht ja bald weiter ...
    Nun habe ich mich selbst etwas in Druck gesetzt, muss einmal am Tag (wenigstens für ein Foto) kreativ sein, es macht mir allerdings Spaß !

    Mira : ja und spätestens morgen früh kannst du das nächste Türchen öffnen ...
    Gerti : danke für das große Kompliment; ja mache das einfach so, wie mit deinem Schokoladen - Adventskalender. Ich freue mich einfach :-)
    Dorit : möchtest du, dass ich nun alles verrate ? Ich hatte zunächst eine gerade Gordon´s - Gin - Version "gebastelt", aber dann dachte ich, ein wenig Schräglage wird der komischen Situation in der Lodge auf Taveuni gerechter. Wegen dem 24. solltest du dir keine allzu großen Gedanken machen ... dauert ja noch etwas bis dahin.
    LG, Reiner
  • DxFx 2. Dezember 2011, 16:19

    schwierige Sache das. ich bin mal gespannt, wie sie ausgeht.
    und du hast die Geschichte jetzt in genau 24 gleich große Stücke geteilt?
    oder ist das Stück am 24. Dezember größer oder kleiner, weil man ja eigentlich keine Zeit hat, an diesem Tag?
    grübel....
    deine Flasche jedenfalls steht schon ganz schön schief, auch ohne Gecko!
    LG Dorit
  • gerla 2. Dezember 2011, 10:28

    Das Foto ist einfach genial gemacht...

    ...und die Geschichte zieht mich langsam in den Bann. auch wenn ich es nicht schaffe jeden Tag hier rein zu schauen, ich werde nachlesen und schauen. So wie ich die Schokoladenstücken aus dem Adventskalender von den Tagen nachträglich rausfummle die ich nicht zuhause war :-))

    lg gerla
  • Mira Culix 2. Dezember 2011, 9:18

    Wie schön, schon wieder ein Geschichten-Türchen offen!
    Das Gin-Bild finde ich auch fein und passt so gut zur Geschichte! :-)
    LG mira