Zurück zur Liste
TEXT UND FOTO 1 (19.2.2022) : RAF-Gefängnis Stammheim // Der Stammheimprozess 1975-1977

TEXT UND FOTO 1 (19.2.2022) : RAF-Gefängnis Stammheim // Der Stammheimprozess 1975-1977

3.091 0

Johannes Zakouril


Premium (Pro), Neu-Ulm

TEXT UND FOTO 1 (19.2.2022) : RAF-Gefängnis Stammheim // Der Stammheimprozess 1975-1977

Anklage
Den Angeklagten werden Mord, versuchter Mord, Bildung bzw. Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Herbeiführen von Sprengstoffexplosionen, schwerer Raub sowie weitere Delikte vorgeworfen. Im Mittelpunkt stehen sechs Sprengstoffanschläge – bzw. Mord in vier Fällen und versuchter Mord in 54 Fällen: der Bombenanschlag auf das Hauptquartier des V. US-Korps in Frankfurt am Main am 11. Mai 1972, Bombenanschläge auf das Bayerische Landeskriminalamt in München und die Polizeidirektion Augsburg am 12. Mai 1972, der Anschlag auf den Bundesrichter Buddenberg in Karlsruhe am 15. Mai 1972, der Anschlag auf das Verlagshaus der Axel Springer AG in Hamburg am 19. Mai 1972 und der Bombenanschlag auf das Europa-Hauptquartier der US-Army in Heidelberg vom 24. Mai 1972.
Politischer Prozess vs. Strafprozess
Der Wunsch der Richter, einen normalen Strafprozess gegen gemeingefährliche Kriminelle und nicht gegen politisch motivierte Täter zu führen, erweist sich bald als Illusion. Zum einen werden die Angeklagten in der öffentlichen Debatte auch von Politikern aus Regierung und Opposition als „Anarchisten“ und „Staatsfeinde“ und eben nicht als gewöhnliche Kriminelle bezeichnet; zum anderen wollen sich die Angeklagten, die sich im „Krieg gegen den Staat“ sehen, allen juristischen Regeln und Kategorien entziehen. Sie nutzen den Gerichtssaal als Bühne, um ihre politischen Analysen und Meinungen publik zu machen und den Staat, der sie anklagt, ihrerseits anzuklagen. (Andreas Baader erklärt, die RAF sei keine Angelegenheit für Gerichte.) Die Atmosphäre ist feindselig.
Der Vorsitzende Richter Theodor Prinzing, dem weitere acht Richter als Beisitzer bzw. so genannte Ergänzungsrichter beigeordnet sind, und die Verteidiger um Otto Schily und Rupert von Plottnitz liefern sich heftige Wortgefechte. (Beide Anwälte finden sich später auf der anderen Seite wieder: Schily ist von 1998 – 2005 für die SPD Bundesminister des Inneren in der Regierung Schröder; von Plottnitz von 1995 – 1998 u. a. Hessischer Justizminister.) Der Prozess wird durch Hungerstreiks der Angeklagten erschwert; zugleich kommt es immer wieder zu Aktionen, Anschlägen und Anschlagsversuchen von RAF-Mitgliedern, die sich noch in Freiheit befinden. Die RAF ist während des Stammheimprozesses und der fünfjährigen Haftzeit ihrer Anführer medial präsenter als in den beiden Jahren, in denen sie die Anschläge verübte, für die sie angeklagt wird.
Sondergesetze
• Gerichtssaal Stuttgart-Stammheim (Quelle: SWR - Screenshot aus der Sendung)
Als direkte Reaktion auf den Prozess werden binnen vier Jahren sechs Gesetze mit insgesamt 27 Einschränkungen der Rechte der Verteidigung erlassen. Die so erreichte Verschärfung der Strafprozessordnung beginnt zwischen der Anklage-erhebung im September 1974 und dem Beginn der Hauptverhandlung im Mai 1975. So wird u.a. erstmals geregelt, dass eine Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt werden darf, sofern dieser seine Verhandlungsunfähigkeit zum Beispiel durch Hungerstreik „vorsätzlich und schuldhaft“ selbst herbeigeführt hat. Die Zahl der gewählten Verteidiger wird auf drei beschränkt, das Verbot der Mehrfachverteidigung eingeführt. Aufgrund dieser Änderungen werden Andreas Baaders Verteidiger Klaus Croissant, Hans-Christian Ströbele und Kurt Groenewold kurz vor Beginn des Prozesses ausgeschlossen. Der Prozess wird vertagt und erst am 5. Juni 1975 weitergeführt. Erst am vierten Verhandlungstag steht Baader wieder ein Verteidiger seines Vertrauens zur Verfügung. Wegen der verfahrensrechtlichen Auseinandersetzungen beginnt die Beweisaufnahme erst am 28. Oktober 1975 - fünf Monate nach Eröffnung des Prozesses.
Im Juni 1976 verabschiedet der Bundestag das „Anti-Terror-Gesetz“. Neben verschärften Fahndungsmaßnahmen ermöglicht es u. a. auch die Überwachung des Schriftverkehrs zwischen Inhaftierten und Verteidigern. Außerdem schafft es mit dem § 129a des Strafgesetzbuchs den Straftatbestand der Bildung von bzw. der Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen. Das ist eine Reaktion auf die Beweisnot in den Prozessen: Es erwies sich als schwierig, einzelnen Tätern strafbare Handlungen individuell nachzuweisen, da die Angeklagten Angaben zu den Tatvorwürfen verweigerten. Der neu geschaffene Paragraph macht es möglich, alle Mitglieder einer Terror-Gruppe für alle Taten dieser Gruppe zu verurteilen, ohne jedem einzelnen Mitglied einen konkreten Tatbeitrag nachweisen zu müssen. Es genügt, dass er oder sie durch Mitgliedschaft in der Gruppe deren Ziele und Weltanschauung teilt und gutheißt. Dieser Paragraph ist eine Folge des Stammheimprozesses und wird erst in späteren Verfahren gegen RAF-Mitglieder angewendet; die Stammheimer Angeklagten werden wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verurteilt.
Im April und Juni 1978 folgen weitere gesetzliche Verschärfungen, die z. B. die Ablehnung eines Richters durch Befangenheitsanträge erschwert. Einen solchen Antrag kann ein, am Gerichtsverfahren Beteiligter (z. B. ein Verteidiger) stellen, wenn er vermutet, dass ein anderer Beteiligter (z. B. ein Richter) befangen, also voreingenommen ist.
Abhör-Affäre
Im März 1977 wird bekannt, dass mit Hilfe des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Bundesamts für Verfassungsschutz im Stammheimer Gefängnis Gespräche zwischen den Verteidigern und ihren Mandanten abgehört wurden. Die zuständige baden-württembergische Landesregierung beruft sich auf einen „übergesetzlichen Notstand“. Das gesetzlich nicht erlaubte Abhören erbringt keine Beweise über bevorstehende Aktionen. Ensslins Verteidiger Otto Schily verlangt die Einstellung des Verfahrens: Es hätte eine "Vielzahl von Verstößen gegen fundamentale Rechtsgrundsätze im Strafprozess stattgefunden". Fortan bleiben die Wahlverteidiger und die Angeklagten dem Prozessgebäude fern. Das Verfahren wird zum „Geisterprozess“. Die Verteidiger halten ihre Plädoyers in einem Stuttgarter Hotel.
Jahre später stellt sich heraus, dass die Abhörmaßnahmen früher begannen und umfangreicher waren als zugegeben; so wurden auch Zellen in Stammheim „verwanzt“. Das zog bis heute nicht endgültig beantwortete Fragen nach sich: Gibt es Tonbandaufnahmen der Todesnacht von Stammheim? Wussten die zuständigen Behörden, dass die Gefangenen trotz ihrer Isolierung miteinander kommunizieren konnten? Wussten sie, dass die Gefangenen über Pistolen und Sprengstoff verfügten, die über Handakten eines Verteidigers eingeschmuggelt worden waren?
Kontaktsperre-Gesetz
Zur Abwehr einer „gegenwärtigen Lebensgefahr“ wird mit Beginn der Schleyer-Entführung am 5. September 1977 trotz fehlender Rechtsgrundlage „nach dem Rechtsgedanken des rechtfertigenden Notstands“ eine „Kontaktsperre“ verhängt: Die RAF-Gefangenen werden untereinander und von der Außenwelt isoliert und erhalten auch keine Anwaltsbesuche mehr. Als Reaktion auf die Wochen andauernde Entführung Schleyers erwägen Politiker und Presse „unkonventionelle Maßnahmen“ wie die Einführung der Todesstrafe, die standrechtliche Erschießung der Angeklagten u. v. m.
Am 2. Oktober 1977 tritt das so genannte Kontaktsperre-Gesetz in Kraft, das die seit Wochen andauernden Maßnahmen gegen 72 Häftlinge nachträglich legalisiert.
Das Urteil
Am 28. April 1977 werden die Angeklagten Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe wegen Mordes, Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte sowie der Bildung einer kriminellen Vereinigung zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. Die mehr als 300 Seiten lange Urteilsbegründung zeigt das Bemühen des Gerichts, politisch motivierter, terroristischer Gewalt mit den Mitteln des Strafrechts zu begegnen und die politische Dimension des Verfahrens auszublenden. "Es kann sich nicht jedermann zum Völkerrechtssubjekt ernennen und auf eigene Faust Krieg führen.", so Richter Foth.
Nach dem Urteil legt die Verteidigung Widerspruch ein. Bevor darüber entschieden werden kann, werden Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe am 18. Oktober 1977 tot in ihren Zellen aufgefunden. Das Urteil wird nie rechtskräftig.
Fazit
Der Stammheimprozess, der auch im Ausland aufmerksam verfolgt wurde, war kein gewöhnliches Strafverfahren. Er war ein Einschnitt in der deutschen Justizgeschichte. Das Urteil, das in der Öffentlichkeit große Beachtung erfuhr, überraschte niemanden. Manche Prozessbeobachter kritisierten sein Zustandekommen und die rechtsstaatlich problematischen Eingriffe in die Verteidigerrechte.
Viele dieser Änderungen im Straf- und Strafprozessrecht sind noch heute in Kraft.
Zur Entspannung der Lage trugen Prozess und Urteil im aufgeheizten gesellschaftlichen Klima der späten 1970er Jahre nicht bei. Die Empörung über die Haftbedingungen und die als unverhältnismäßig empfundene Härte der Justiz führten dazu, dass die Zahl aktiver RAF-Mitglieder und Sympathisanten vorübergehend stieg. Die Konfrontation zwischen Staat und linken Terroristen eskalierte weiter.
Dirk Praller, freier Autor und Lektor, Berlin Quelle: Planet-Schule

Kommentare 0

Informationen

Sektion
Views 3.091
Veröffentlicht
Sprache
Lizenz

Exif

Kamera iPhone 7
Objektiv iPhone 7 back camera 3.99mm f/1.8
Blende 1.8
Belichtungszeit 1/19231
Brennweite 4.0 mm
ISO 25

Gelobt von