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Über mich

Zweifache Ausführung

Die schönste Geschichte übers Ruhrgebiet ist uralt und längst erzählt. Sie ist die schönste und wohl auch kürzeste Geschichte übers Ruhrgebiet. Es ist die Geschichte von der goldenen Schraube und sie wird hier wahrscheinlich nicht nacherzählt. Wer sie hören will, muss sich schon den Film „Jede Menge Kohle“ ansehen. Darin geschieht allerlei regional Typisches, aber um den Ruhrpott zu verstehen, reicht die Geschichte von der goldenen Schraube im Grunde genommen aus. Es scheint daher sinnvoll, an dieser Stelle eine andere Geschichte zu erzählen, die zunächst deutlich nüchterner anmutet, aber vielleicht den gleichen Zweck erfüllt. Viel länger als die Geschichte von der goldenen Schraube ist sie allerdings auch nicht. Daher sei dies vorangestellt:

Obwohl ich im Ruhrgebiet aufwuchs und immer hier gelebt habe, musste ich 35, 36 werden, um zu verstehen, dass ich einer von hier bin. Was längst nicht bedeutet, dass ich hätte sagen können, ich wüsste, wie die hier ticken. Was den Menschen des Ruhrgebiets ausmacht. Ich wuchs bei Oppa auf. Ich bin als Enkel eines sächsischen Binnenschiffers vom Wesel-Datteln-Kanal aus in die Welt gescheucht worden. Vor dem Fenster meines Kinderzimmers tat sich das große Tor der Babcock auf, waren es dreißig, vierzig Minuten mit dem Fahrrad bis zur Zeche Lohberg. In deren Schatten gab es „Ilhans Flammgrill“, wo wir gern Ilhans einzigartige Hähnchen und noch einzigartigere Türkburger aßen. Meine erste Pizza aß ich bei Al Trullo in der Innenstadt von Dinslaken. Meine erste Freundin hatte ich in Duisburg-Marxloh. Mit 16 traf ich meine besten Freunde im Old Daddy oder im Esch-Haus in Duisburg oder besuchte sie in der besetzten Zechensiedlung Ripshorster Straße in Oberhausen. Als Glaserlehrling, später als Malocher, hatte ich Baustellen im gesamten Großraum Duisburg. Als Roadie einer Band war ich zwischen Hattingen, Elberfeld, Holthausen, Werden, Katernberg und Mengede so ziemlich überall. Ich habe mein Abi auf dem Zweiten Bildungsweg am Oberhausen-Kolleg gemacht, an der Bochumer Ruhr-Uni studiert und mir mein Studium mit Jobs in Mülheim, Essen, Duisburg und Moers finanziert. Auf die Frage nach dem Ruhrgebiet aber hätte ich wahrscheinlich immer geantwortet „Wat is dat?“. Wie er so ist, der Ruhrdeutsche: wirklich, ich hatte keine Ahnung. Glaubte ich jedenfalls, bis ich – Pi mal Daumen – 40 war. Natürlich habe ich meinen Verwandten in Sachsen bei diesem Thema immer gerne irgendwelche Büdchenanekdoten erzählt, habe ihnen die Welt ins rechte Licht gerückt, wenn sie den Tegtmeyer, den sie aus dem Westfernsehen kannten, für meinen Schulkameraden hielten und auch dieses immer gleiche, ausgebeulte Blech nachgequatscht, das sich unter anderem durch die inflationäre Verwurstung des Begriffs „Bodenständigkeit“ auszeichnet. Ich hätte jedem, der um Auskunft gebeten hätte, was von Max von der Grün vorgelesen und Grönemeyers „Currywurst“-Song empfohlen, ein Programm der „Missfits“, die Filme Adolf Winkelmanns. Ich hätte sogar jedem Gamsbart erklären können, was „Schalke 04“ und „Borussia Dortmund“ bedeuten (nämlich besonders dämliche Varianten des Borderline-Syndroms). Ich hätte selbstverständlich was von Fördertürmen, Zechen, Halden und rot glühenden Himmeln erzählt, von Haniel und Dortmunder Union, von Hösch, Thyssen, Krupp und Beitz und Stinnes. Ich hätte vielleicht auch die komplette erste Strophe der Steiger-Hymne hingekriegt, den ganzen Grubenlampenstadl aufgesagt. Aber eine Antwort auf die Frage, was den Ruhrpottmenschen ausmacht, wäre ich trotz allem immer schuldig geblieben.

Vielleicht bin ich ignorant. Vielleicht ein wenig autistisch. Möglicherweise habe ich mir die Fahrscheinentwerter des VRR besser eingeprägt als meine Nachbarn, haben mich die Ruhrfestspiele in Recklinghausen und der Grimme-Preis mehr interessiert als die Sterkrader Fronleichnamskirmes. Oder solch abschreckende Beispiele wie Rösner und Degowski haben mich immer davon abgehalten, auch nur darüber nachzudenken, wie wir hier denn so sind. Und jetzt verwende ich absichtlich das „wir“, weil mir unlängst alles ein ganz klein wenig klarer geworden ist. Wir sind nämlich, manchmal zumindest, noch schlichter als einige dieser unausrottbaren Klischees von uns. Ich traf einen Freund, der gemeinsam mit mir am Oberhausen-Kolleg das Abi nachgeholt hatte, der Bergmann gewesen und inzwischen Lehrer für Deutsch und Philosophie geworden war. Wir saßen in einem Biergarten im Duisburger Innenhafen und er erzählte mir in epischer Breite von seiner Examensarbeit über das Werk Gottfried Benns. Solch schwere Kost kann schon mal den Bier- und Zigarettenkonsum ankurbeln, und so kam es, dass wir anschließend vor einer unserer klassischen Büdchen standen, um Zigarettentabak zu erstehen. Mein Freund hatte, vielleicht auch angesichts der im Fenster ausgestellten Tittenmagazine, den akademischen Faden verloren, ließ seinen Blick über das Lakritz-, Bonbon- und Schnapsangebot wandern und sagte, derweil wir auf Bedienung warteten, auf einmal etwas nachdenklich „…früher hab ich mir ja jedes Buch zwei mal gekauft“. „Wat?“, gab ich zurück, „Wieso dat denn? Einmal für’t Scheißhaus und einmal für’n wackelnden Tisch, oder wie?“. Das Fenster des Büdchens öffnete sich, und mein Freund erwiderte: „Nee. Aber so’n Buch wird doch unheimlich dreckich da unten“.

Zugegeben: Die Vielschichtigkeit dieser Antwort mag sich möglicherweise doch nur dem Kenner der Materie erschließen. Mir selbst bereitete sie einen echten „Aha!“-Moment. Und da ich inzwischen weiß, dass sie eben nicht ganz den gleichen Zweck erfüllt wie die Geschichte von der goldenen Schraube, sondern vielmehr deren Gegenstück darstellt, bin ich nun gern bereit, diese doch noch in eigenen Worten wiederzugeben.

Es war einmal ein Mann, der hatte da, wo andere Menschen den Bauchnabel haben, eine goldene Schraube. Jeder, der ihn kannte, bewunderte ihn deshalb. Der Mann aber wollte sein Leben lang wissen, wozu die goldene Schraube mitten auf seinem Bauch da war. Eines Tages holte er tief Luft und fasste Mut: Er nahm sich einen 15er Schlüssel und begann, an der goldenen Schraube zu schrauben. Und er schraubte und schraubte und schraubte und schraubte und schraubte und schraubte… bis ihm der Arsch abfiel.

Jens E. Gelbhaar 2010

Kommentare 217

  • Rainer Gilberg 6. Januar 2020, 22:35

    Hallo Jens,
    habe erst jetzt Deinen Kommentar gesehen. Ein gutes 3/4 Jahr später :-) Oh ja ...bin ursprünglich aus Friedrichsfeld und wir beide kannten uns früher ganz gut!  Grüße ...Rainer
  • finepixonline 13. Januar 2019, 19:01

    ich schrieb bereits keine weiteren kommentare,vielen Dank,ansonsten wird der nächste comment gemeldet,schönen Abend
  • finepixonline 12. Januar 2019, 23:44

    bitte keine weiteren kommentare
  • BurkhardLoll 2. April 2018, 8:14

    Hallo Jens,
    habe Deine Geschichte sehr interessiert gelesen. Wundert mich eigentlich, dass wir uns nie begegnet sind.
    Gruß Burkhard (in Dinslaken geboren, in Hiesfeld aufgewachsen, bei Thyssen gelernt, in Duisburg studiert, die meiste Zeit meines Lebens in Düsseldorf gearbeitet, jetzt Vollblut-Rentner in Voerde)
  • Analogdigital 16. Februar 2018, 14:23

    Der Maler is aus Homberg
  • Birnbaum Werner 24. Oktober 2017, 11:31

    Vielen Dank , Grüße Werner
  • Bernd Hohnstock 20. Oktober 2017, 9:24

    Danke für die nette Anmerkung zu meionem Foto
     Elfia Arcen 2017 ......
    Elfia Arcen 2017 ......
    Bernd Hohnstock

    habe mich sehr darüber gefreut, wünsche dir weiterhin immer tolle Fotos
    und einen Gruß vom linken Niederrhein ... Gruß Bernd
  • Birnbaum Werner 9. Oktober 2017, 11:36

    Viele Dank ,Grüße Werner
  • Skat 22. September 2017, 18:49

    Hallo ! Danke für deine Kommentare, dank Dir habe ich etwas aufgeräumt.... nicht aktuell mehr :-)
    Gruß
    skat
  • Nicole Puppa 8. Juni 2017, 20:06

  • Nicole Puppa 8. Juni 2017, 15:53

    Moin Moin! Danke fürs vorbeischauen. Dein Text war interessant zu lesen. Ich hab mit dem Pott so gar nichts anner Uhr, waschechte Norddeutsche :-) Ich betrachte gerne alte Fotos , habe ich mir hier also mal etwas umgesehen :-) LG
  • Irene 26. Mai 2017, 21:51

    Hallo, ich freue mich, dass ich neugierig auf das Siegfried-Museum in Xanten machen konnte. Es liegt unmittelbar vor der Kirche, in der Kurfürstenstraße 9, ich wünsche viel Spaß, auch in dem Ort, mir gefiel er sehr.
    Viele Grüße
    Irene Kühn
    Kirche in Xanten
    Kirche in Xanten
    Irene
  • Irene 26. Mai 2017, 21:51

    Hallo, ich freue mich, dass ich neugierig auf das Siegfried-Museum in Xanten machen konnte. Es liegt unmittelbar vor der Kirche, in der Kurfürstenstraße 9, ich wünsche viel Spaß, auch in dem Ort, mir gefiel er sehr.
    Viele Grüße
    Irene Kühn
    Kirche in Xanten
    Kirche in Xanten
    Irene
  • see ...saw... seen 6. Mai 2017, 12:47

    Lieber Kenner der Hobby-Indianer und Mopssuppenvorkoster,
    ich verneige mich in Dankbarkeit vor dem Autoren dieser bös bösen Geschichte :-)))
    Viele Grüße,
    Kerstin
    (in Zivil)
  • Der Michel aus... 20. April 2017, 21:23

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