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Moskau - Am Ende des Sozialismus

Moskau - Am Ende des Sozialismus

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Pedro May


kostenloses Benutzerkonto, Siegsdorf

Moskau - Am Ende des Sozialismus

Russland, Moskau: Vom Kommunismus in den Kapitalismus
Vom Regen in die Traufe

... nun sitze ich hier in der Hauptstadt des ersten sozialistischen Staates und bedauere die Folgen dessen, was einst aus der Motivation "dem Menschen ein besseres Leben zu konstruieren" geworden ist ...

Sozialismus nannte es Stalin, Abertausende in Strafgefangenenlagern zum Tod zu erniedrigen und auf Kosten anderer Abertausender eine rückständige Industrie aufzubauen. Mensch und Umwelt vernichtende Infrastrukturen entstanden, lärmende und stinkende Fabriken verdrängten Wald und Wiese, der gefügige Arbeiter wurde in den Himmel gelobt.

Mit Juri Gagarins ersten bemannten Weltraumflug entwickelte sich der einstige Agrarstaat zu einer ernsten Bedrohung für den politischen Westen. Der Sputnik-Schock wurde zur Triebfeder der gesamten westlichen Welt. Wettrüsten und forcierte technische Ausbildungsgänge durch alle Ausbildungsrichtungen hinweg mechanisierten einen Wettlauf des Wettrüstens, der mit dem Fall der Berliner Mauer sein offizielles Ende nahm.

Der kalte Krieg ist von da an zu Ende. Nun sollen weitere Tschernobyls verhindert werden und somit restaurieren amerikanische Experten längst baufällige Atomkraftwerke russischen Standards. Und wieder läuft ein Countdown.

Doch was dem ersten sozialistischen Staat der Welt geblieben ist, ist zugleich auch der jünste Kapitalismus in seiner reinsten Form. Der Rubel rollt längst nicht mehr und somit bestimmt der Dollar die Gesetze und wer keinen Dollar besitzt, wird zum Opfer der neuen Anarchie. Arme, Alte, Männer und Frauen, Alkoholiker und Alkoholikerinnen werden zum Supergau der einst "sozialen Weltmacht".

So blicke ich aus dem Fenster eines edlen Restaurants mit kulinarischen Tatarenspezialitäten, Kaviar deckt meinen vergoldeten Teller, doch meine Augen sehen eine verwahrloste Babuschka beim Betteln. Ich beobachte sie länger, schließlich kommt sie ans Fenster und hält die Hand auf. Ich lade sie zum Mitessen ein. Schließlich fängt sie an zu erzählen:

"Ich war 40 Jahre Melkerin auf einer Kolchose, habe jeden Tag gearbeitet und bin in meinem ganzen Leben nicht mehr als 50 Tage krank gewesen. Dafür habe ich sogar eine Ehrennadel, eine Prämie und ein Foto auf einer DOSKA-POTSCHOTA (Schwarzes Brett in der Firma) bekommen."

Aus einer Tüte zieht sie ein Stück altes Brot hervor, bricht sich ein Stück ab, bedient sich meines Brotaufstriches und schweigt für einige Minuten. Auch ich bin sprachlos. Dann fährt sie fort: "Jetzt bin alt und keiner will mich mehr für sich arbeiten lassen. Die Gesellschaft für die ich einst alles tat, will mich nicht mehr und die Stadt, die mich einst ehrte, zahlt mir eine Pension in Rubel, die nicht mal für meine Miete ausreicht. Der jüdische Arzt, dem ich einst heimlich Milch besorgte, ist nach Deutschland ausgewandert ... ich glaube, er arbeitet dort auf einer Baustelle oder so. Wenn ich jetzt krank werde, kann ich nicht mehr betteln und werde verhungern!"

Ohne Tränen in den Augen beendet sie das Gespräch, legt sich zur Seite und schläft mit ihrem Wollpullover in den Armen ein. Vielleicht ist die Dame nun reicher als zuvor, denn mit mir hatte sie womöglich heute ihren ersten sozialen Kontakt.

Nun glaube ich ihre harte Realität verstanden zu haben: Sie ist auf einem sinkenden Schiff ohne die Kraft, sich auf ein Rettungsboot zu retten. Jetzt weiß ich was Hilfslosigkeit ist!

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