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Hans Theodor Stumm


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Ein Freund

Der Ölbaum

Er steht ganz auf sich selber, ein Riese und Held.
Ein Gewirk aus Alter, Frucht und Zeit, ein Lebendiges,
das sich tausend oder zweitausend Jahre ans Dasein klammert mit Leidenschaft.
Der Stamm ist hohl, die Rinde durchlöchert.
Vielmals kann man den Arm durchs zerwirkte Gebilde tun.
Tausend Tode ist er gestorben und tausendmal wieder zum Leben erwacht,
der große Geduldige.
Er ist nichts einzelnes mehr, sondern ein Vieles,
ein Zopfwerk und Flechtwerk von Strängen und quellenden Wachstumszügen.
Alt, uralt.
Ich lege die Hand an das warm durchsonnte, graue Gestein aus Holz.
Großer, alter Freund.

Aber seine Krone zeigt nichts von Alter und nichts von Gebrechlichkeit.
So uralt sein Grund ist, so jung ist das Leben, das er erzeugt.
Denn auch das bringt er zuwege in seiner Ölbaumweisheit, dass er sich immer verjüngt.
Sie schneiden alljährlich die Stämme zusammen, bis nichts mehr vom Grünen bleibt.
Er lässt sich’s gefallen, treibt großmütig und gütevoll immer neue Reiser.
Denn er weiß auch, dass dies das Beste ist:
Fortdauernde Alterskraft und Junglebendiges, das aus ihr erwächst, Sprießendes, Springendes, man muss es gewähren lassen, wie es will:
Denn es wird es schon noch erfahren.

(Erhart Kästner, Kreta)

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