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DosRios

Brandon Q. Morris „Die dunkle Quelle“
[…] Ihre Bewegung beschleunigt sich. Das entspricht nicht der Vorgabe. Sie muss bremsen, um den niedrigeren Orbit zu erreichen, auf dem ihr Ziel unterwegs ist. DosRios 19/2 steigert die Leistung ihres Triebwerks. Es feuert entgegen ihrer Bewegungsrichtung. Sie gibt eine Statusmeldung ab. Die Annäherung an das Ziel läuft nicht plangemäß. DosRios 19/2 hat keine Angst. Ihr Triebwerk besitzt noch Reserven. Aber ein Rendezvous-Kurs, wie er ihr befohlen wurde, wird immer unwahrscheinlicher. Das Zielobjekt nimmt zwar dauernd an Masse zu, es hat aber immer noch zu wenig Anziehungskraft. Sie muss bremsen, nicht beschleunigen. DosRios 19/2 berechnet mehrere Kursvarianten. Aus den meisten wird eine Hyperbel, die sie aus dem Sonnensystem schleudern wird. Allerdings endet die Kurve stets an derselben Stelle: am Kern ihres Ziels. Der Aufprall wird sie zerstören. Also muss sie versuchen, ihn zu verhindern. DosRios 19/2 sendet eine weitere Statusnachricht an die Erde. Wer immer sie programmiert hat, besitzt jetzt vielleicht noch die Chance zum Eingreifen. Könnte DosRios 19/2 sich selbst verstehen, hätte sie diese Hoffnung nicht mehr. Es gibt keine Macht, die diesen Flug aufhalten kann. Aber noch erfüllt sie ihre Aufgabe. Das Ziel ist verschmiert. Es sieht aus, als wäre ein Vogel beim Landen in einen Hundehaufen gestürzt und darin noch ewig weitergeschlittert. So wird später Adam Smith es seinem Vorgesetzten erzählen. DosRios 19/2 ahnt nichts davon. Sie sieht nur die Messdaten, die in einem menschlichen Bewusstsein dieses Bild entstehen lassen. Die Materie, die aus ihrem Ziel geschleudert wird, scheint zähflüssig. Sie bleibt wie Honig an der Bahn kleben, der ihr Ziel folgt. Und sie übt Kräfte aus, von denen DosRios 19/2 nichts ahnt, denn sie hat kein Gravimeter an Bord. Niemand hat daran gedacht, dass man zur Erforschung eines interstellaren Besuchers ein Gravimeter benötigen könnte. Denn die Gravitation, die Anziehungskraft der Masse, scheint kaum in der Lage, irgendwelche Überraschungen zu verursachen. DosRios 19/2 muss sich mit einem Radar und verschiedenen Spektrometern behelfen. Das Radar zeigt immerhin, dass ihr Ziel noch existiert. Es befindet sich genau dort, woher die andere Sonde sendet. Vielleicht trifft sie sie am Ende ihrer Reise. Es würde ihrer beider Tod bedeuten. DosRios 19/2 ist nicht schockiert. Es ist eine simple Tatsache, dass jede Existenz begrenzt ist. Ihre Geschwindigkeit steigt weiter. Jetzt kommen die ersten Temperaturmessungen herein. Aber sie gelangen nicht durch die Eingabe-Kontrolle. Irgendein Programmierer hat Plausibilität-Checks eingebaut. Was zu tief oder zu hoch ist, wird verworfen. Zunächst wird nur jeder zehnte Wert verworfen, dann jeder dritte, dann jeder zweite. DosRios 19/2 gehen die Werte aus. Sie entscheidet, dass ein Fehler vorliegt. Diese Option hat sie immer. Ein sehr schlauer Programmierer hat ihr so etwas wie ein Über-Ich eingesetzt, das die Funktion aller Komponenten überwacht. Es kann diese zwar nicht manipulieren. Aber es kann eingreifen und die Daten dann unverarbeitet weiterleiten. Besser, die Erde erhält Rohdaten als gar keine Daten. Sie wird schneller. Das Triebwerk hat jetzt keine Chance mehr. Ihre Bahn ist auf jeden Fall eine Hyperbel. Auf ihrem Weg liegt etwas, das so ist wie sie. DosRios 19/2 definiert zwei Aufgaben. Erstens: Daten zu sammeln, so lange das möglich ist. Zweitens: die Wahrscheinlichkeit der weiteren Existenz des sendenden Objekts erhöhen. DosRios 19/2 weiß nicht so richtig, warum sie ihre Entschlüsse fasst. Ihr Über-Ich ist dafür zuständig. Es besitzt eigene Effizienz-Algorithmen aus dem Alpha-Omega-Bausatz für autonome Fahrzeuge, angepasst an robotische Sonden. DosRios 19/2 sendet einen Notruf. Sie ruft nicht um Hilfe. Dafür ist es zu spät. Aber sie warnt. Kurze Zeit später begegnet ihr der eigene Ruf. Das andere Objekt muss ihn aufgefangen und weitergeleitet haben. DosRios 19/2 weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Sie besitzt keine Bewertungseinheit, denn sie war nie dazu bestimmt, mit Menschen zu tun zu haben. Aber es gibt Reste. Einige Programmteile sind aus dem Alpha-Omega-Bausatz für autonome Fahrzeuge übrig geblieben. Der zuständige Programmierer hat es nicht für nötig gehalten, sie zu entfernen. Ein Fahrzeug im Straßenverkehr muss in der Lage sein, Reaktionen eines menschlichen Gegenübers einzuschätzen. DosRios 19/2 schätzt ein, dass das andere Objekt ihre Warnung ernst nehmen wird. Sie hat darin auch ihre nicht vorhandenen Optionen kodiert. Sie kann nicht ausweichen, also kann sie nur hoffen, dass das andere Objekt ausweicht. DosRios 19/2 schaltet das Triebwerk in den Stand-by-Modus. Sie wird es im letzten Moment verwenden. Vielleicht kann sie dem Kometen, ihrem Ziel, damit noch ausweichen und so ihr Leben retten. Das Über-Ich leert ihre Speicher. Im Endanflug soll sie kein Speicherüberlauf zusätzlich in Gefahr bringen. Sie sendet ein Abschiedssignal an ihre Muttersonde. Es ist eine simple Abmeldung. DosRios 19 muss erst einmal keine Ressourcen mehr für sie freihalten. Dann klappt sie die Antenne ein, um ihren Querschnitt zu verringern. Sie empfängt eine Positionsmeldung. Die Nachricht muss ganz aus der Nähe kommen. Nur das andere Objekt kommt dafür in Frage. DosRios 19/2 berechnet die Position. Das Objekt liegt genau in ihrer Flugbahn. Offenbar kann es sich nicht bewegen. DosRios 19/2 berechnet drei Alternativen. Auf Bahn 1 zündet sie ihr Triebwerk gar nicht. Beide Objekte werden zu 80 Prozent Wahrscheinlichkeit zerstört. Auf Bahn 2 schaltet sie das Triebwerk wie geplant ein. Das ergibt für sie selbst eine Überlebenschance von 40 Prozent, für das andere Objekt von 5 Prozent. Bahn 3 enthält einen Triebwerksschub in voller Stärke und eine Entlüftung des Sauerstofftanks. Das wird sie zum Trudeln bringen. DosRios 19/2 wird dann weit oberhalb des Kerns einschlagen, und zwar sicher. Das andere Objekt hat eine Überlebenschance von 80 Prozent. 64 versus 2 versus 80 Prozent. Der Effizienzalgorithmus hat leichtes Spiel. DosRios 19/2 schickt eine Abmelde-Bestätigung an das fremde Objekt. Über die kurze Distanz reicht auch die eingeklappte Antenne. Es ist eine Geste. Selbst eine primitive Steuerung sollte damit etwas anfangen können. Dann startet DosRios 19/2 ihr Triebwerk. Es brennt binnen 12 Sekunden aus. Sie entlüftet den Sauerstofftank. Plötzlich dreht sie sich. Sie treibt den Kometenkern entlang. Unter ihr blitzt etwas silbern auf. Ihre eingeklappte Antenne registriert eine Abmelde-Bestätigung. Dann prallt DosRios 19/2 gegen einen schwarzen Felsen.[…]

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