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Showdown in Worms

Showdown in Worms

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Thomas Reitzel


Premium (World), Fountain, RP

Showdown in Worms

Plandampf "Kalk an der Alsenz" am 3. und 4. Mai 2002

Akteur: 50 2740 und ein Kalk-Ganzzug von 880 t Gewicht zwischen Stromberg und Ludwigshafen BASF
via Langenlonsheim - Bad Kreuznach - Langmeil - Monsheim- Worms Hbf - Frankenthal:

Wie üblich herrschte miserables Regenwetter - Landregen und Wind!

Die südliche Ausfahrt des Bahnhofs Worms liegt in einem Einschnitt und wird beiderseits von hohen Sandsteinmauern begrenzt. An drei Stellen führen Straßenbrücken darüber. Am Brückenkopf der mittleren Brücke “stapeln“ sich bereits eine Reihe von Fotografen und Filmern mit Regenschirmen an strategisch günstiger Stelle und haben die besten Stellen schon eingenommen. Unter der Brücke vor uns lugt die 50er mit ihrem Zug hervor. Der Landregen hält unvermindert an. Der Wind treibt den Öl- und Kohlegeruch der Dampflok herüber, deren Kessel jetzt auf Spitzendruck gebracht wird. Hinter uns vorbeifahrende Autos verlangsamen ihre Fahrt und die Fahrer halten Ausschau. In ihren Gesichtern unausgesprochen die Frage, was hier wohl “abgeht“.

Ein zufällig vorbeikommendes Pärchen bleibt stehen. Der Mann sieht, worum es uns geht. Die Frau, immerhin schätzungsweise Anfang Dreißig, sagt zu ihrem Begleiter, etwas verschämt, sie habe wirklich ! noch nie ! eine Dampflok gesehen ! Unglaublich und - für uns Insider - kaum zu fassen!

Trotz des Regens bleiben immer mehr Passanten stehen, und in den umliegenden Häusern gehen die Fenster auf.

Die Erwartung steigt, der Regen tropft, Ungeduld stellt sich ein. Durch die beim Wassernehmen im Zellertal entstandene Verspätung ist der Fahrplan unseres Güterzuges aus den Fugen geraten. Planmäßig verkehrende Züge haben Vorrang. Die Streckenhöchstgeschwindigkeit in Richtung Ludwigshafen liegt bei 160 km/h. Die Mannschaft unserer 50 2740 mit ihren rund 1000 Tonnen(die Planlok, eine Ludmilla, hing am Schluß und ließ sich schleppen) am Haken kann froh sein, wenn sie gerade mal die Hälfte überhaupt erreicht!
Also erhält zunächst noch ein Regionalexpress Richtung Karlsruhe Ausfahrt, der aus zwei neuen Triebwagen der Baureihe 612 besteht. Im Blockabstand rauscht ein Intercity nach Stuttgart ohne Halt durch den Bahnhof, Steuerwagen voraus und schiebende 120 am Schluß. Schließlich folgt noch ein Regionalzug Mainz-Mannheim mit Doppelstockwagen und einer Mannheimer 143 bespannt. Gleichzeitig fährt der 628-Triebzug nach Monsheim–Alzey–Bingen aus. Eigentlich für heutige Verhältnisse eine erstaunliche Typenvielfalt, die sich hier dem Kenner darbietet.

Bei schönerem Wetter komme ich nochmal wieder´, denke ich mir. —

Nun – endlich – ist die Bühne bereitet für den Auftritt des heutigen Superstars.

Kein Regisseur hätte die Spannung effektiver zum Höhepunkt treiben können!

Ausfahrt frei!

Die Videofilmer bitten um Ruhe.
Die Fotografen kontrollieren ein letztes Mal ihr Motiv durch den Kamerasucher.

Es ertönt der tiefe Achtungspfiff der 50er. Lautes Ah und Oh der jungen Frau. Unter dem ohrenbetäubenden Zischen der geöffneten Zylinderhähne jagt der erste Auspuffschlag Dampf und Rauch in den verhangenen Himmel. Mit einem gewaltigen Rauchpilz und bei weit ausgelegter Steuerung knallendem Auspuffdonner bringt die 50er über die anschließenden Weichenstraßen ihren Zug langsam in Fahrt, wummert dumpf unter der ersten Brücke hindurch.
Eingehüllt in einen Schleier aus Dampf und Qualm taucht sie wieder darunter hervor, der Rauchpilz schießt senkrecht in die regennasse Atmosphäre, senkt sich träge und zitternd in die 15000 Volt der Oberleitung, auf die angrenzenden Gebäude und wälzt sich buchstäblich die Straßen hinunter in Richtung Innenstadt und Dom ...
Ein Wunder, daß die Lok bei dieser Feuchtigkeit den schweren Zug ohne Schleudern in Fahrt bringt. Die Kunst des Lokführers! Wie in Zeitlupe kriecht der Zug auf uns zu; ein unvergeßlicher optischer und akustischer Hochgenuß!

Direkt unter uns tobt sie lautstark vorbei, ballert unter der Brücke durch, nebelt sie ein. Hohl bricht sich der Auspuffschlag darunter, schallt von den Hauswänden zurück.

Langsam poltert der schwere Zug vorüber, über die letzte Weiche und unter der nächsten Brücke hindurch, nur langsam etwas schneller werdend, seinem Ziel, der BASF in Ludwigshafen entgegen.
Nun, da der Zug sich in kompletter Länge auf dem geraden Hauptgleis befindet, verklingt mit nun deutlich schneller werdendem Arbeitsgeräusch der Dampflok diese eindrückliche Vorbeifahrt, nein - der Auftritt! - in der Ferne. Noch Minuten später hängt der Qualm und der „Duft“ der Dampflok über dem Bahnhofsgelände und in den umliegenden Straßen. Über der Strecke Richtung Frankenthal liegt der graue Rauchschleier des entschwindenden Zuges.
Von dieser Szene kann man nun wieder eine Weile “zehren“.

Mir fällt ein Stück Text aus dem Song „The City Of New Orleans“ von Arlo Guthrie ein:

„... this train´s got the disappearin´ railroad blues ...“.


Ehrfurchtsvolles Schweigen aller Umstehenden. Wie benommen zerstreuen sich die Zaungäste wieder. --

Ich glaube, eindrucksvoller kann man jemandem, der noch nie eine Dampflok gesehen hat, nicht vorführen, was es mit dem Zauber dieser Maschine auf sich hat.

ES IST IN DER TAT DIE GEWALTIGSTE MASCHINE, DIE DER MENSCH JE ERFUNDEN HAT.

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Kommentare 24

  • Marc Strack 18. November 2007, 13:43

    Uiii
    Die hat ja mal schön die Stadt eingenebelt. Super Bild
    Leider habe ich damals noch nicht richtig fotografiert ;=(
  • Werner ES 5. Juni 2007, 22:59

    Hui....was ein Roman, was aber auch ein Spektakel! Erinnert mich gerade an eine Doku bei Bahn-TV über chinesische Dampfloks! Würde auch gerne mal solch nen wahnsinnigen Dampf ins Bild bekommen!
  • MichaelStengel 23. Mai 2007, 19:53

    klasse eingefangewn!

    lg michel
  • Bernard Walker 17. Mai 2007, 18:15

    Man spürt, sieht und riecht die Kraft förmlich, die von diesen Maschinen ausgeht. Davon bekomme ich Gänsehaut. Da wurde vermutlich kräftig gesandet...Wieder ein wunderbares Doku von dir. LG Bernard
  • Jan-Henrik Sellin 17. Mai 2007, 10:05

    Was für eine Resonanz auf ein Dampflokfoto, aber zu recht. Besonders die Beschreibung der Entstehung des Bildes mit allen Randereignissen ist einfach großartig, ich ziehe meinen Hut!
    Einen schönen Himmelfahrtstag,
    Jan
  • Anja Pfeifer 16. Mai 2007, 23:21

    WAAahnsinn .... mir fehlen die Worte ...

    staunende Grüße
    Anja
  • Gerhard Jacobs 16. Mai 2007, 20:09

    Mal wieder eine perfekte Symbiose von Bild und Text.

    VG Gerhard
  • Andreas List 16. Mai 2007, 8:37

    Einfach ein genialer Erlebnisbericht....

    Grüße

    Andi
  • Steffen°Conrad 16. Mai 2007, 7:20

    Mitreißend packend erzählt- und das Foto genauso spektakulär-
    dank Ortskenntnis von Worms kann ich das nachvollziehen...
    einfach alles Spitze!!
    Vg Steffen
  • Thomas Sommer. 16. Mai 2007, 2:07

    Gewaltiger Dampf! Sehr spektakulär!
    Grüße
    Thomas

    PS.
    "..this train's got the disappearin' railroad blues."
  • Wolf F. 16. Mai 2007, 0:12

    Schade,
    da wär ich auch gern auf der Brücke gewesen - sowas habe ich damals in Braunschweig am Güterbahnhof auch oft erlebt, leider viel zu wenig fotografiert.
    Gruß
    Wolf
  • Axel Flörchinger 15. Mai 2007, 22:02

    Bei schönem Wetter hätte ich sicher von hier aus die Dampfwolke gesehen..
    Zur eindrucksvollen Reportage das passende Foto - was will man mehr.
    LG Axel
  • Wolfgang Graßl 15. Mai 2007, 21:42

    Wäre es trocken gewesen und hätte die Sonne geschienen, der Dampfpilz wäre nur halb so grandios ausgefallen. Sehr gut erzählt, man ist dabei!
    Viele Grüße, Wolfgang
  • Rob Z. 15. Mai 2007, 21:42

    was soll man da noch sagen,gratulation,mfg,rob
  • Jean Albert Richard 15. Mai 2007, 21:33

    Eine sehr beeindruckende Aufnahme!
    LG

    JR