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Marina Zilger


kostenloses Benutzerkonto, Möhnesee/ Bochum

~meditation~

Der Mensch und die Quelle

Ein Mensch lebte mitten in einer weiten Wüste. Er war sich dessen jedoch nie so richtig bewußt, weil es in dieser Wüste eine üppig blühende Oase gab, die von einer nie versiegenden, lebendigen Quelle mit frischem, klarem Wasser gespeist wurde.
Dort wohnte er schon seit langer Zeit. Er hatte um die Quelle einen Brunnen gebaut, den er sorgsam schützte und sauber hielt, und wenn er durstig war, brauchte er nur von diesem lebensspendenden Wasser zu schöpfen. Oft kam er auch nur einfach so, setzte sich zu seinem Brunnen und lauschte dem Klang des Wassers.

Doch mit der Zeit fand der Mensch gar nichts Besonderes mehr an dieser Quelle. Es war ja doch nur gewöhnliches Wasser. Er entdeckte, daß die Datteln und die anderen Früchte der Bäume doch auch genügend Flüssigkeit enthielten, um davon leben zu können. Außerdem waren sie süß und von köstlichem Geschmack. So kam er immer seltener zu seinem Brunnen, um Wasser zu schöpfen, und schließlich vernachlässigte er ihn ganz.
Mit der Zeit verschüttete der Flugsand, den der Wind aus der Wüste mit sich brachte, den Brunnen immer mehr, bis von ihm nichts mehr zu sehen war. Die Quelle war zwar unterirdisch noch da, aber das Wasser konnte nicht mehr in die Höhe steigen.
Die ersten, die das zu spüren bekamen, waren die Bäume, die bisher vom Überlauf des Brunnens verwöhnt waren, und die nun ihre Wurzeln nicht weit genug in die Tiefe strecken konnten, um an das Wasser heranzukommen. Sie trugen bald immer weniger und immer trockenere Früchte, die nach gar nichts mehr schmeckten.
Der Mensch mußte sich nun wohl oder übel wieder auf die Suche nach Wasser machen. Doch die Zeit hatte in ihm jede Erinnerung an seinen früheren Brunnen ausgelöscht, gerade so, als hätte er überhaupt nie existiert. So war er denn froh, als er endlich eine alte Zisterne fand, die noch etwas Wasser enthielt von einem jener ganz seltenen Tage, an denen es ein wenig regnete. Da auch dieses Wasser äußerst schal und fad schmeckte, ist es kein Wunder, daß der Mensch bald den Sinn für den wahren Geschmack des Lebens verlor.

Da träumte er eines Nachts von einer Quelle, die sprudelte von frischem, köstlichen Wasser, das so sehr nach Leben schmeckte, daß der Mensch weinen mußte. Als er am Morgen erwachte, hatte der Traum in ihm eine tiefe Sehnsucht zurückgelassen, dieses Wasser zu finden. Er wußte nun in seinem Herzen, daß er dieses Wasser bereits kannte und - daß er in die Tiefe gehen mußte, um die Quelle, seine Quelle, wieder zu finden.

(Hans Waltersdorfer, Februar 1985)

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