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Gestundete Zeit

Fotomontage aus zwei Bildern [Astronomische Uhr (Ausschnitt) im Liebfrauenmünster Strasbourg, 01.02.2009 und Wolkenformation am Himmel, 12.03.2009]

(Astronomische Uhr: Canon 400 D, f/4,5 bei 149 mm, 1/125 s, ISO 1600, Teilbereichsmessung/mittenbetont, Bearbeitung: Adobe Photoshop 7.0, Tonwertkorrektur, Filter: Farbpapiercollage
Wolkenformation: Canon 400 D, f/10,0 bei 238 mm, 1/800 s, ISO 100, Teilbereichsmessung/mittenbetont, Bearbeitung: Adobe Photoshop 7.0, Tonwertkorrektur)

____________________________________________________________________________________

Die gestundete Zeit

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald musst du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.

(Ingeborg Bachmann)






Ein minimalistischer Roman. 16. Zeit und Sein
Ein minimalistischer Roman. 16. Zeit und Sein
E. W. R.

Kommentare 81

  • Arnd U. B. 3. September 2010, 12:31

    Es wär schön, wenn man tatsächlich Zeit stunden könnte...manchmal wünschte man freilich ebenso, dass sie rascher abläuft...LG Arnd
  • Doris H 7. Juni 2009, 7:44

    Dieses Foto samt dem Gedicht der Bachmann, das mich auch durch ein halbes Leben begleitet hat passt gut zur Aussage von meines heutigen Bildes, das du ja auch so verstanden hast.

    Da hier ja so lange Anmerkungen sind, für die ich mir heute mal bewusst Zeit nehme, werde ich mal ein Gedicht zu dem Thema ZEIT einmsetzen, das m.E. gut dazu passt, auch wenn es augenscheinlich profan wirkt. (Es wurde übrigens Anfang 1900 geschrieben. Die Probleme sind immer die Gleichen :-) )


    Mit der Uhr in der Hand

    Wir leben in ´ner eiligen, hastigen Zeit,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand,
    der eine, der schiebt heut den andern beiseite,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

    Wir drängen alle vorwärts, ob Hinz oder Kunz,
    sind stets außer uns, und wir kommen nie zu uns,
    denn wir werden mit uns ja nur flüchtig bekannt,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

    Der Tag beginnt schon in eiligem Lauf,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand,
    der Wecker, der weckt uns, wir stehen schon auf
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

    Schnell ziehen wir uns an, und wir schlingen unseren Schmaus,
    der ist noch nicht runter, da treten wir aus
    und sitzen selbst dort an der hinteren Wand
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

    Wir turnen, wir trainieren, zum Masseur gehen wir hin,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand,
    mal sind wir zu dick, mal sind wir zu dünn,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

    Wir gehn nie, sind auf dem Laufenden stets,
    wenn wir mal wen treffen, dann fragen wir: Wie gehts?
    Und eh der es uns sagt, sind wir weiter gerannt,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

    Wir fahren in die Ferien und sitzen am Strand,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand,
    erwarten die Post, den geschäftlichen Stand,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

    Ein Buch mal zu lesen, das wär ein Genuß-
    wir lesen den Anfang und schauen nach dem Schluß,
    durchblättern den Goethe, druchfliegen den Kant,
    mit er Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

    Wir machen eine Reise im Automobil,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand,
    wir reisen nicht mehr, wir rasen zum Ziel,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

    Fragt man uns; die Gegend, die war wohl sehr schön.
    Dann sagen wir ja und wir haben nichts gesehen,
    denn wir fuhren bloß vorbei ohne Sinn und Verstand,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

    Die Liebe, die Ehe betreiben wir als Sport,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand,
    wir finden uns, verbinden uns und -pflanzen uns fort,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

    Will sie ihn mal küssen, dann stellt er sich froh-
    und denkt sich: Nun mach schon, ich muß ins Büro-
    Und er drückt sie ans Herz und küßt sie galant,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

    So eilen wir durchs Leben ohne Freud und Pläsier,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand,
    da, plötzlich steht einer, ist mächtiger als wir,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

    Der sagt: Du brauchst nicht auf die Uhr mehr zu sehn,
    denn meine geht weiter und deine bleibt stehn
    und er winkt uns hinüber ins andere Land,
    mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

    Otto Reutter

    Das Foto kommt auf meine Favoriten!

    LG Doris
  • erich w. 3. Mai 2009, 12:48

    die bögen im bild...
    überbrücken die vordergründig sichtbaren eindrücke, dieser arbeit
    mit einer lastigkeit nach beiden seiten..
    nach innen und außen
    lg.e
  • Tassos Kitsakis 2. Mai 2009, 18:55

    «Zieht Euch warm an» Oskar Lafontaine
  • Nora F. 17. April 2009, 20:36

    eine fantastische, beeindruckende arbeit !!!
    es grüßt dich herzlich
    nora
  • KGS 13. April 2009, 21:13

    @Es-Er & Willy: Eure Unterhaltung zum Wunder möchte ich an dieser Stelle einmal so stehenlassen; sie ist sehr schön.
    Kerstin
  • KGS 12. April 2009, 11:17

    @Es-Er & Willy: Ganz recht! ("Och nö!") ;-)))
  • E. W. R. 12. April 2009, 9:32

    "Versprochen ist versprochen!" "Aber nicht gehalten." "Jedenfalls werden wir uns kürzer fassen." "Och nö!" ;-)
  • KGS 12. April 2009, 8:36

    Eckhard: Liebe Es-Er, lieber Willy, was die Vernunft betrifft, die man im Zusammenhang mit Ereignissen, wie dem im Bild "Schwarzes Eis" diskutierten, betrachten kann, so muss man vielleicht davon ausgehen, dass die geistige Reflexion beim Täter, so sie überhaupt stattgefunden hat, derart überlagert war durch Vorstellungen, Bilder, vielleicht auch durch eine krankheitsbedingte Verzerrung aufgrund einer psychischen Störung - dies ist allerdings nur zu vermuten, dass er allein, ohne Hilfe von außen, möglicherweise gar nicht mehr "vernünftig" denken und handeln konnte (was die Tat allerdings nicht verständlicher macht).

    Vernunft ist ein bewusstes Abwägen verschiedener Möglichkeiten auf der Basis des Bestehenden, der Erfahrungen, Erkenntnisse, Erwartungen im Hinblick auf die jeweilige Lebenssituation. "... vernünftig sein" kann dabei natürlich verschiedene Bezugspunkte haben. Um Neues wagen zu können, wird man das Vernünftige und Sichere aber immer auch ein wenig missachten müssen, sonst wird man seinen Bewegungsradius nicht ändern können. Was da aus dem Es kommt, muss ja auch nicht unbedingt negativ gesehen werden.

    Über die Schützen, die sich in freier Natür mit Farbkugeln beschießen, habe ich vor einigen Jahren einmal einen Dokumentarfilm gesehen. Angemalt und getarnt wie im Krieg sind die Verrückten durch Wälder gelaufen auf der Suche nach dem Feind. Ich möchte das gar nicht weiter ausführen; so etwas ist einfach irre! Menschlicher Verstand kann da nicht wirklich im Spiel sein.

    Aber es ist wohl in der Tat so, dass unterschiedliche Möglichkeiten der Reflexion zu großen Problemen führen kann, nicht zuletzt, was gegenseitiges Verständnis, Akzeptanz und Toleranz betrifft.
    Übrigens, lieber Willy, lieber Es-Er, eure Diskussion hat Ka gewiss sehr gefallen ... :-)).

    PSALM

    1
    Schweigt mit mir, wie alle Glocken schweigen!

    In der Nachgeburt der Schrecken
    sucht das Geschmeiß nach neuer Nahrung.
    Zur Ansicht hängt karfreitags eine Hand
    am Firmament, zwei Finger fehlen ihr,
    sie kann nicht schwören, daß alles,
    alles nicht gewesen sei und nichts
    sein wird. Sie taucht ins Wolkenrot,
    entrückt die neuen Mörder
    und geht frei.

    Nachts auf dieser Erde
    in Fenster greifen, die Linnen zurückschlagen,
    daß der Kranken Heimlichkeit bloßliegt,
    ein Geschwür voll Nahrung, unendliche Schmerzen
    für jeden Geschmack.

    Die Metzger halten, behandschuht,
    den Atem der Entblößten an,
    der Mond in der Tür fällt zu Boden,
    laß die Scherben liegen, den Henkel ...

    Alles war gerichtet für die letzte Ölung.
    (Das Sakrament kann nicht vollzogen werden.)

    2
    Wie eitel alles ist.
    Wälze eine Stadt heran,
    erhebe dich aus dem Staub dieser Stadt,
    übernimm ein Amt
    und verstelle dich,
    um der Bloßstellung zu entgehen.

    Löse die Versprechen ein
    vor einem blinden Spiegel in der Luft,
    vor einer verschlossenen Tür im Wind.

    Unbegangen sind die Wege auf der Steilwand des Himmels.

    3
    O Augen, an dem Sonnenspeicher Erde verbrannt,
    mit der Regenlast aller Augen beladen,
    und jetzt versponnen, verwebt
    von den tragischen Spinnen
    der Gegenwart ...

    4
    In die Mulde meiner Stummheit
    leg ein Wort
    und zieh Wälder groß zu beiden Seiten,
    daß mein Mund
    ganz im Schatten liegt.

    (aus: Ingeborg Bachmann:
    Die gestundete Zeit)

    "In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort"; in Predigten zum Ostersonntag findet man diesen Satz aus dem Bachmann-Gedicht übrigens gar nicht so selten.
    Den entsprechenden Interpretations-Band habe ich mir bereits vorgemerkt und werde ihn, wie auch die eine oder andere Literaturangabe in der nächsten Zeit etwas näher betrachten.
    Was das Gedicht "Enigma" betrifft, zu dem Maria Behre in dem Interpretationsband einen Aufsatz schrieb, gibt es auch unter diesem Link eine interessante Auseinandersetzung von Sebastian Kiefer mit dem Werk.http://books.google.de/books?id=1x_1QGtNJqMC&pg=PA71&lpg=PA71&dq=Behre+Enigma&source=bl&ots=v7zJ2cFu1N&sig=F0EKHqd3wwCMIiWHGqVnOSmnFRA&hl=de&ei=CYnhSf3PEtSFsAaw-5DjCA&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=1#PPA74,M1
    Was die Auszüge aus den Interpretationen angeht, danke ich euch sehr. Ich werde mich gewiss noch eine ganze Weile damit auseinandersetzen.

    Mit dem letzten Satz eures Gesprächs "Zum nächsten Bild von Ka sagen wir dann mal nichts." ;-)
    bin ich allerdings nicht einverstanden! ;-)))

    Über eure gestrige Unterhaltung zum "Wunder" muss ich mir noch Gedanken machen.

    Kerstin
  • Sabine Jandl-Jobst 11. April 2009, 19:59

    Da bin ich jetzt aber "hängengeblieben". Sehr anspruchsvoll und interessant, da werden Gedanken angeregt, die gerade heute sehr wichtig sind.
    Gute Idee mit der Fotomontage.
    LG Sabine
  • E. W. R. 11. April 2009, 9:50

    "Die Literatur hat es mit dem Wunder immer leichter als das Leben." "Eben. Ein Roman ist letztlich nur eine Menge geordneter Wörter, und der Film ist nach 90 Minuten zu Ende. Aber im wirklichen Leben ist das Wunder auch noch am nächsten Morgen da. Und die Woche darauf. Und Jahre. Und ein Leben lang." "Ich hol' Dir keine Sterne mehr vom Himmel. Die liegen nachher doch nur bei uns 'rum." "Das habe ich so gerade nicht gemeint, lieber Willy."
  • KGS 10. April 2009, 8:56

    @Eckhard: Lieber Willy, liebe Es-Er, es ist doch gut, dass das wirkliche Leben mit seinen Wundern sehr sparsam umgeht. Träte es häufiger in Erscheinung, wäre das Wunder doch bald nur noch etwas ganz Gewöhnliches, das sich rasch abnutzt, das man eben hinnimmt, jedoch beim nächsten Wunder bereits vergessen kann.
    Allerdings kann gerade auch das Gewöhnliche ein Wunder sein
    Reflexionen (4)
    Reflexionen (4)
    KGS
    , wie der Briefwechsel zwischen Bachmann und Celan zeigt.

    Wunder kündigen sich wahrscheinlich nicht an, sie überfallen die Menschen, suchen sie heim (oder waren bereits vorhanden und man hat sie als solche nur nicht bemerkt). Sie dürften auch nicht besonders pflegeleicht sein. Um mit ihnen umzugehen, sie auszuhalten, zu erhalten, darf man wohl nicht auf ein weiteres Wunder hoffen. Es ist die Frage, ob man, in dem was und wie man ist, dafür bereit ist, ob man in der Lage ist, etwas dafür zu tun, damit es bleibt, ob man das Richtige tun wird, ob Verstand, Klugheit, Gefühl ausreichen - kurzum, es liegt an den Menschen selbst, was sie aus einem Wunder machen.

    Was das Wunder der Liebe betrifft, so hatte Ingeborg Bachmann für sich irgendwann das Fazit gezogen, dass sich im Verschließen in Beziehungen die grundsätzliche Bestätigung der Unmöglichkeit von Liebe zeigt und ihre Beschwörung des Gelingens im Untergang zur Dichtung gemacht. "Ich glaube, dass die Liebe auf der Nachtseite der Welt ist, verderblicher als jedes Verbrechen, als alle Ketzereien", lässt sie in der Dichtung "Den guten Gott von Manhattan" sagen." http://www.welt.de/die-welt/article2314577/Dein-Herz-schlaegt-allerorten.html
    Das "[Es] könnte viel bedeuten" ... Aber diesbezüglich wird jeder Mensch eigene Auffassungen, Hoffnungen und Möglichkeiten haben.

    Nun gibt es natürlich viele Arten von Wundern, allein, dass wir leben können - Celan hatte diesbezüglich schlimme, einschneidende Erfahrungen machen müssen, die sein gesamtes Leben tangierten - und diese Vielfalt des Lebens genießen dürfen, ist ein solches, was gerade jetzt auch imder Natur besonders deutlich wird.

    Liebe Es-Er, lieber Willy, danke auch für diese interessante Unterhaltung, die natürlich auch dazu beiträgt, die Lyrik der beiden Schriftsteller vor diesem Hintergrund (den Hintergründen) mit besonderer Sorgfalt zu lesen. Ich sehe, dass ihr euch auch bereits zur eigentlichen Interpretation des Gedichtes "Die gestundete Zeit" geäußert habt. Herzlichen Dank dafür! Ich antworte heute abend.

    Kerstin
  • E. W. R. 9. April 2009, 22:14

    "... vernünftig sein." "Die Vernunft ist nur eine dünne Hülle um das Es, wie die Erdoberfläche über der Magma."

    Schwarzes Eis
    Schwarzes Eis
    E. W. R.


    "In der Tat. Wusstest Du übrigens, dass es jetzt neben den klassischen Sportschützen, denen ja eher die Leute davonlaufen, eine zweite Schützengattung gibt, die mit großkalibrigen Imitatwaffen, die Farbkugeln verschießen und den Rückstoß der echten Waffen haben, in der Natur herumlaufen und die Szenen nachstellen, die sie bereits aus den Computerspielen kennen?" "Nein; das ist ja nicht zu fassen!" "Wieso, das war doch zu erwarten. Es sollen bereits 80.000 Leute sein. Am PC herumsitzen ist doch nicht cool. Aber auf lebende Ziele schießen; das macht an. Die Zeitschrift 'Stella' berichtete kürzlich darüber. Wer mit diesen Imitatwaffen geübt hat, kann dann problemlos eine echte verwenden." "Nun ja ... es gibt so viele Verrückte, wie IHM sagen würde ... im Bösen wie im Guten. Übrigens ist es natürlich ein Problem, dass 'Stellet Licht' unter Bauersleuten spielt. Reflexion über das, was da geschieht, kann man nicht erwarten." "Das ist in den anspruchsvollen und weniger anspruchsvollen Romanen und Fernsehspielen ja nun weiß Gott genug zerredet worden. Ich finde es gut, dass es praktisch nur die Handlung gibt, so einfach sie ist, und dann diese wunderbaren Bilder." "Ja, dem Bauern wird in der entscheidenden Szene sehr schön der Hut vom Kopf geweht .... der Hut, die Hut, die Behütung ..." "Lass das jetzt, Willy. Wir müssen mit Frau Bachmann und Herrn Celan auch mal zum Ende kommen, so wenig wir hier auch dazu sagen können." "Ja, relativ wenig. Aber hier auch relativ viel. Hoffentlich hat es Ka ein wenig gefallen ... 'Ungedruckte Quellen mitzutheilen, ist, wie Jeder zugeben wird, das erste unter den Verdiensten, die um ein geschichtliches Fach erworben werden können', wie Friedrich Carl von Savigny einmal trefflich sagte ... aber auch mit den Briefen wissen wir eigentlich kaum etwas." "Es soll ja auch damals schon das

    Telefon
    Telefon
    E. W. R.


    gegeben haben zwischen Wien und Paris."

    "In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort ..." "Ja, besser kann man es nicht sagen, liebe Es-Er. Ein schöner Titel. Allerdings finde ich die Interpretation der 'Gestundeten Zeit' von Herrn Dorowin in dem Sammelband dieses Titels von Herrn Kucher und Herrn Reitani nicht so toll. Wohingegen ich sehr davon angetan war, dass meine alte Kollegin Behre sich dort über 'Enigma'

    Enigma
    Enigma
    E. W. R.


    äußert." "Ja, diesen Aufsatz kann Ka bei Gelegenheit selbst, lesen, lieber Willy. Was hältst Du denn von Herrn Beickens Interpretation in seinem Buch über die Bachmann?" "Na ja, das Gedicht zitieren und dann eine halbe Seite etwas darüber schreiben, das würde ich mir selbst als Sprachwissenschaftler zutrauen." "Gut, lassen wir den auch beiseite. Allerdings ist das Buch für die Vita der Bachmann sehr wertvoll." "Gewiss. Wer über alles schreibt, schreibt oft über das Detail wenig. Man kann es ihm nicht vorwerfen. Eine Zierde unserer Stadtbibliothek." "Ähnlich Positives könnte man über das Buch von Bartsch sagen." "Karl Bartsch? ... Ach nein, Kurt. Ja, eine gute Einführung." "Wie das Buch von Herrn Höller." "Mit dem Altersbild auf dem Umschlag, ja." "Herrn Schärfs Interpretation in dem Band von Herrn Mayer ist ja so übel nicht. Wenn man das gelbe Reclam-Bändchen sieht, möchte man das gar nicht glauben." "Natürlich ein reines Vorurteil. Es gibt auch ein blaues Bändchen von Herrn Beicken, den wir bereits mit seiner Biographie erwähnt hatten. Vielleicht ist das unter deinem Niveau?" "'Literaturwissen' ... klingt nach Oberstufe. Was schreibt der denn zu der 'Gestundeten Zeit?'" "Nun, er meint, dass dem Gedicht ein Dringlichkeitsappell eigen sei, der aus warnender Voraussicht zum Handeln aufruft. Dann geht er kurz auf germanistische Kritik ein, die der Bachmann 'Verschwommenheit' in der Sprache vorgeworfen hatte, weil 'jede Ursache im Dunkel' zu bleiben scheine. Dagegen sprächen aber solche unpoetischen Begriffe wie die 'gestundete Zeit' und die ungewöhnlich ausdrucksstarke Wendung 'es kommen härtere Tage'." "Gut, Lyrik muss ja nicht gleich für jedermann einsehbar sein, und warum sollten irgendwelche Ursachen genannt werden?" "So ist es, liebe Es-Er. Nun, was das Gedicht selbst betrifft, bemerkt Beicken gewiss mit Recht, dass dort Reminiszenzen an die klassische Mythologie spürbar sind, etwa im Wahrsagen der Auguren aus den Fischeingeweiden. Ferner wird sowohl auf Odysseus, den listigen Helden des trojanischen Krieges und Spätheimkehrer nach endlosen Irrfahrten, angespielt als auch auf Orpheus, den welt- und götterbewegenden Trauer-Sänger. Für Odysseus, den Vertreter der Klugheit und der instrumentellen Vernunft, schreibt Beicken, ergibt sich hier keine Rückkehr und endgültige Heimkunft, sondern er erliege dem Zwang erneuten Aufbruchs. Ehemals wurde er von seinem treuen Hund wiedererkannt. Jetzt aber ergeht der Aufruf an ihn, die Tiere zurückzujagen. Das Verfahren der Kontrafaktur, Nachdichtung mit spezifischer Variation, hier die Umkehrung ins Gegenteil, werde deutlich. Lupinen werden oft zur Bodenregenerierung angepflanzt; hier erfüllen sie die ihnen zugeschriebene Funktion des Leuchtens kaum, sind kraftlos im Leuchten; statt klassischer Lichtfülle herrscht Nebel. Nebel, der den Blick aufsaugt bei der Anstrengung, die es kostet, das am Horizont heraufziehende Ungewisse und Bedrohliche, die 'gestundete Zeit', wahrzunehmen. Was da aufzieht, so Beicken, sei aber kein blindes Fatum, kein unbegreifliches Schicksal, sondern wohl ein Produkt der Zeit und der fehlgelaufenen Geschichte. Ein Versagen der Menschen, die eine unwirtliche Welt geschaffen haben, in der keine Bleibe ist." "Damit meint die Bachmann ja wohl den zweiten Weltkrieg, seine Ursachen, seine Folgen und die bis dato nicht erfolgte Aufarbeitung dieser Geschehnisse." "So wird es wohl sein, Es-Er; wir sprachen ja bereits über die historischen Bedingungen und ihre Konkretisierungen in Handlungen und Personen, nicht zuletzt und eigentlich - was die Bachmann betrifft - vor allem in der Person Celans. Nun schreibt Beicken weiter, das der Begriff 'härtere Tage' den Begriff des Härtetests, der Zerreißprobe evoziere, ein Härtetest, der nicht nur der große geschichtliche sei, sondern auch das Persönliche, Intime betreffe." "Hier könnte man über den Bezug zu der Beziehung mit Celan spekulieren." "So wird es wohl sein; was sonst. Die Bachmann hatte sich ja bereits früher so gegeben, im Dunkelgespräch über die Unmöglichkeit erfüllter Liebe. Hier wird nun, schreibt Beicken, der unabwendbare Verlust der Geliebten erneut vorgestellt, intensiviert durch die mit 'drüben' heraufbeschworene Grenze und das Wüstenbild. Die Sandmetapher assoziiere das schicksalhafte Rinnen einer Sanduhr." "Gewiss eine Reminiszenz an Celans 'Der Sand aus den Urnen' von 1948, wo Wüste und Vergehen, Sehnen und Verlust der Geliebten ebenfalls gestaltet wird." "Wir kommen wieder nicht gut weg. Während die Frau im Sand versinkt, hat ihr der Mann den Rücken zugedreht. Abgewendet vom verstummten weiblichen Ich, das sprachlos vor der heraufziehenden Härte verschwindet. Der Härte, die weibliches Schicksal und private Liebesgeschichte als bloß typisierte erscheinen lässt." "Hier kann ich Beicken nicht ganz folgen." "Ich auch nicht. Schlüssiger erscheint mir dann der Hinweis, dass Bachmanns Aufforderung an das Du, 'Sieh dich nicht um', Brechts Unterweisungen wie 'Verwisch die Spuren' rekapituliert, die er in seiner lyrischen Kritik der Entfremdungsproblematik des Kapitalismus erteilte, und zwar in seinem 'Lesebuch für Städtebewohner' von 1930. Verstellung, die Brechtsche Maxime, sei auch für die Bachmann bestimmend. Das Gedicht reagiere so auf die Entstellungen des Gesellschaftlichen und Geschichtlichen mit Gegenmaßnahmen, mit Selbstbewahrungsversuchen gegenüber den Zugriffen übermächtiger Gewalten. Der Aufbruch wird als notwendig hingestellt, wie im Gedicht 'Ausfahrt', und bis in die Details der sorgenden Handlungen inszeniert. Was bei Brecht schlechte Zeiten für die Lyrik bewirkte, schreibt Beicken, betrifft hier die Liebe, die als Unzeitgemäßes als erstes geopfert wird. Gefordert wird das Bereitsein zur Wanderschaft, zum Abbruch jeglicher Beziehung zum Angestammten, Beheimateten. Mit unwiderruflichem Abschied von den Marschhöfen, den Hunden, den untauglich gewordenen Fischen, den unnützen Lupinen und auch der unrettbar verlorengegangenen Geliebten." "Da hat die Bachmann vielleicht an Rilkes 'Sei allem Abschied voran" in den Sonetten an Orpheus gedacht, seine Aufforderung, zurückzusteigen in den 'reinen Bezug'." "Du bist mit der Materie gewiss vertrauter, Es-Er." "Ach was ... leider müssen wir hier Schluss machen." "Bricht die Vorlesungszeit bei euch auch aus?" "Etwas später als bei den Ungläubigen." "Zum nächsten Bild von Ka sagen wir dann mal nichts." ;-)
  • KGS 9. April 2009, 8:00

    Lieber Eckhard, herzlichen Dank, dass Du mich an dieser interessanten Unterhaltung der beiden Germanistenkollegen teilhaben lässt ;-). Ich denke darüber nach und antworte am Abend.
    Kerstin
  • E. W. R. 8. April 2009, 18:19

    "Das wirkliche Leben pflegt mit Wundern etwas sparsam zu sein, liebe Es-Er." "Ja, so etwas gibt es im wesentlichen in der Literatur oder im Film, Willy. Das darf ich wohl behaupten, auch wenn ich wesentlich jünger bin als Du. Leider ... (sieht ihn etwas länger an und beobachtet sein Mienenspiel) ... mit 'leider' habe ich jetzt die Wunder gemeint, die im wirklichen Leben nicht vorkommen, sondern nur in der Kunst. Etwa in 'Stellet Licht' oder seinem Vorbild 'Ordet'. Im realen Leben ist das alles etwas komplizierter." "Nicht einmal die Bachmann und Celan konnten wirklich zusammenleben." "Nein, die Bachmann schreibt über ihren am 14. Oktober 1950 beginnenden Pariser Aufenthalt bei Celan an ihren Wiener Freund Hans Weigel, dass der Versuch eines gemeinsamen Lebens "strindbergisch" geworden sei. Man habe sich 'gegenseitig die Luft' genommen." "Und dann hat Celan die aus altem französischen Adel stammende Künstlerin Gisèle Lestrange gefunden, Anfang November 1951. Womit seine materiellen Sorgen jedenfalls beendet waren." "Typisch von Dir, diesen Aspekt hervorzuheben, Willy. Aber so ist es. Was wäre Thomas Mann ohne die Pringsheims; Heinrich war da taktisch völlig daneben ... die Bachmann war zu dieser Zeit bettelarm." "Im November 1951 nicht mehr; sie hatte im April 1951 eine Anstellung bei der amerikanischen Besatzungsbehörde gefunden. Aber davor. Sie kämpft gegen die "zermalmende, schreckliche, hundertköpfige Hydra Armut". Dazu gehören ein Nervenzusammenbruch, Fieberschübe und Zusammenbrüche. Immerhin ist sie dann ab September 1951 als freie Mitarbeiterin für den von der Besatzungsbehörde gegründeten Sender Rot-Weiß-Rot tätig." "Rot-Weiß-Rot, Willy? ... Ach so, schon klar." "Daraus wird dann eine feste Redakteursstelle." "Celan hatte ihr in dieser Zeit geschrieben: "Lass uns nicht mehr von Dingen sprechen, die unwiederbringlich sind, Inge. Und bitte, komm nicht meinetwegen nach Paris!" "Starker Tobak, Es-Er. Wir Männer sind doch in Gefühlsdingen oft die reinsten Trampel. Aber das Merkwürdige ist ja, dass dieser Brief bei der Bachmann sowohl den tiefsten Schmerz auslöst als aber auch eine Wendung dahingehend einleitet, dass sie fortan ihr Leben entschieden in die eigenen Hände nimmt." "Womit wir uns der 'Gestundeten Zeit' nähern." "Ja, ja, ich weiß, Es-Er ... in der Kürze liegt die Kürze, aber das war es auch bereits ... einen Moment noch (lächelt). Man hat gesagt, dass sie die Aufnahme der eigenen Gedichte vorangetrieben hat, aber auch mit allen Mitteln versuchte, den Freund mit auf diese Reise zu nehmen." "Das war wohl auch so. Und dass sie dann beide zu der Niendorfer Tagung der Gruppe 47 eingeladen wurden, 1952, wird nicht ohne einige Finesse zustandegebracht worden sein." "Finesse ... aus deinem Mund klingt das Wort ausgezeichnet, Es-Er. Fotografierst Du übrigens auch? ... Mit ihren Gedichten kam sie dort an, obwohl sie nur leise und stockend vortrug, aber Celan überhaupt nicht." "Nun ja, in der Gruppe 47 befanden sich nicht wenige ehemalige Wehrmachtssoldaten, die eher am realistischen Erzählen orientiert waren. Und als Celan dann die 'Todesfuge' las und das Gedicht 'Ein Lied in der Wüste' mit seiner dunklen, melodiösen Stimme, wurde das als 'ärgerliches Pathos eines jüdischen Lyrikers' verbucht." "Aus heutiger Sicht schier unglaublich, Es-Er. Man kann verstehen, warum sich Celan dann gekränkt nach Paris zurückzog." "Gewiss. Aber die Bachmann, für die sich mit der ersten Einladung zur Gruppe 47 ein Tor zur Welt geöffnet hatte, versucht nun, den Freund zu bewegen, Manuskripte an Verlage zu schicken und Lesungen wahrzunehmen." "Und ihre einstige Verehrung wandelt ihren Charakter. Sie spricht nun auf Augenhöhe. Sie hat die Hoffnung, dass sie seine Gedichte 'besser lesen kann als die anderen', weil sie ihm 'darin begegne'". "Celan hat darauf nicht reagiert." "Aber mit ihren Gedichten wird sie ihm beweisen, dass sie zu lesen versteht und dass sie wie niemand anders im Leben des jüdischen Dichters Celan den Finger auf die Wunde der hereinbrechenden Erinnerung legen kann." "Und im Dezember 1953 schickt sie ihm ihren Gedichtband "Die gestundete Zeit". "Nur Celan kann zu diesem Zeitpunkt 'das Briefgeheimnis ihrer Gedichte entziffern', wie Frau Stoll trefflich schreibt." "Gut, das betrifft den ganzen Band, über den wir uns hier nicht äußern können, wie auch das Mottogedicht selbst." "Über das wir dann bei nächster Gelegenheit sprechen." "Hast Du übrigens heute abend noch etwas vor?"

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